Schritt für Schritt sammelten die Menschen Wissen über die Zusammenhänge in der Natur und wie man sich diese zunutze macht. Trotzdem blieb vieles unerklärlich, manches auch bedrohlich. Dort, wo Beobachtungen keine Erkenntnisse lieferten, nahmen sie Erfahrungen aus anderen Lebensbereichen zur Hilfe, um sich die Welt zu erklären. Anfangs, als die Menschen gerade begannen, sich die Natur zielgerichtet nutzbar zu machen, entstand auf diese Weise die Vorstellung, dass nicht nur sie selbst, sondern auch die Pflanzen und Tiere handelnde Subjekte seien. Wie sie selbst, würden auch diese sicher einen Anführer haben, den man sich mit Bitten und Gaben gewogen halten wollte. Darüber hinaus schien es ihnen nur folgerichtig, dass auch die Erscheinungen in der Natur, die man sich nicht recht erklären konnte, das Werk von Subjekten seien. Da man diese nicht sehen konnte, waren sie wohl weder Mensch noch Tier, sondern etwas anderes, Götter eben. Wie sollte man mit Göttern umgehen? Verehrung, gutes Zureden und kleine Geschenke würden sicher auch bei ihnen für Wohlwollen sorgen. Der Einzelne tat das nicht für sich allein, sondern er tauschte sich mit anderen dazu aus, so dass sich nach und nach eine gemeinsame Vorstellung von der Natur und ihren Göttern herausbildete. In dieser Zeit stand für die Menschen jedoch noch außer Frage, dass sie selbst Teil dieser Natur seien. Folglich existierten auch die Götter nicht außerhalb ihrer Lebenswelt, sie waren vielmehr in einer mystischen Beziehung mit ihr verwoben.
Im Laufe der Zeit lernten die Menschen immer besser, sich die Natur nutzbar zu machen oder gegebenenfalls sich ihrer zu erwehren. Viele Erscheinungen, die ehemals furcherregend waren, flößten ihnen nun keine Angst mehr ein. Ihr Selbstvertrauen wuchs, so dass Pflanzen und Tiere mehr und mehr von Partnern zu Objekten ihres Tuns wurden. Es war auch ganz praktisch, wenn nicht hinter jedem Baum, den man fällen wollte, und hinter jedem Tier, das gejagt werden sollte, Götter zu vermuten waren, die erst besänftigt werden mussten, bevor man zur Tat schreiten konnte. Den Menschen schien es jetzt, dass ihnen die Erde mit den Pflanzen und Tieren darauf als Lebensraum gegeben sei, den sie zu eigenem Nutz und Frommen gebrauchen könnten. Allerdings waren da immer noch eine Reihe von Erscheinungen in der Natur, deren Ursachen sie nicht verstanden, die wohl doch das Werk von Göttern waren. Die Sonne, zum Beispiel, spendete Licht und Wärme, ohne die nichts gedeihen konnte. Aber warum verschwand sie jeden Abend, um am Morgen wiederzukommen? Wo war sie in der Zwischenzeit? Außerdem gab es verheerende Naturkatastrophen, nur warum? Es drängte sich auch die Frage auf, wer die Welt und die Menschen darin erschaffen hatte.
Es waren also Erklärungen zum Platz der Menschen in der Natur gefragt. Aber auch das Zusammenleben der Menschen hatte sich verändert. Große soziale Unterschiede waren entstanden. War das rechtens? In den alten Hochkulturen waren die Priester berufen und befähigt, Antworten auf diese Fragen zu geben. Die Antworten, die sie fanden, gingen in ihre Lehren ein. Die religiösen Lehren waren damit nicht mehr nur Mythos als Reflex auf Unwissen, sondern auch Sammelbecken des in ihrer Zeit vorhandenen Wissens über die Natur. Außerdem hatten sich ethische und moralische Normen des Zusammenlebens herausgebildet, die ebenfalls Bestandteil der religiösen Lehren wurden. Auf diese Weise erlangte die Religion eine zentrale Bedeutung für das Leben der Gemeinschaft. Sie wurde, da sie die entstandenen sozialen Strukturen heiligte, auch zu einem Machtinstrument der Herrschenden. Diese besondere Rolle des Glaubens hatte wiederum einen wachsenden Einfluss der Priester zur Folge. Sie wachten nun eifersüchtig darüber, dass die von ihnen vertretenen Lehren die alleingültigen blieben. So kam es einer Revolution gleich, als Echnaton im Ägypten des 14. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die herrschenden Götter verstieß, die reine Menschenliebe verkündete und nur noch der lebensspendenden Kraft der Sonne huldigen wollte. Damit wurde der allmächtig gewordenen Priesterkaste ein gewaltiger Schlag versetzt. Allerdings kehrte schon sein Sohn, nicht ganz freiwillig, zu den alten Göttern zurück.
Das alte Testament kündet ebenfalls von einem Neuanfang. Statt eine Vielzahl von Göttern zu preisen, die wie im alten Ägypten meist Tieren oder Fabelwesen ähnelten, sollte nur noch einem Gott gehuldigt werden. Von ihm sollte man sich kein Bild machen, gleichwohl offenbarte sein Tun menschliche Züge. Er war kein Gott aus einer anderen Welt, sondern jemand, der ihr Leben, ihre Nöte und Ängste kannte, und der sie aus der ägyptischen Sklaverei in die Freiheit führen würde. Er war der Patriarch, der über die Gemeinschaft wachte und dessen Gesetze sie befolgten. Nachdem die Israeliten das gelobte Land gefunden und einen Staat gegründet hatten, veränderte sich jedoch allmählich ihr Zusammenleben. Die sich vollziehenden wirtschaftlichen und politischen Veränderungen fanden Eingang in die religiösen Lehren. Ihr Gott wurde vom sorgenden Vater mehr und mehr zum Herrscher, der Menschen belohnte oder bestrafte. Die Gemeinschaft selbst hatte sich ebenfalls verändert. Die Stammesgesellschaft hatte sich in ein Staatswesen verwandelt, das dem einzelnen mehr und mehr fremd wurde.
Im Laufe der Zeit verschärften sich die sozialen Spannungen. Da die herrschenden Lehren die Nöte und Ängste der Menschen nicht aufgriffen, entstanden neue religiöse Strömungen. Eine dieser Strömungen war das Christentum. Es rückte die Solidarität der Gläubigen in den Mittelpunkt, auch weil der Staat den Zusammenhalt der Gemeinschaft nicht mehr gewährleistete. Außerdem reflektierte es die durch die Entstehung des Privateigentums eingetretenen sozialen Veränderungen, zum Beispiel indem es die besondere Bedeutung der engeren Familie hervorhob. Die Kritik der Christen richtete sich vor allem gegen inhaltslos gewordene Rituale und eine Priesterschaft, die mehr auf ihre Macht als auf das Wohl der ihnen anvertrauten Menschen bedacht war.
Nur wenige Jahrhunderte später betrat der Islam die Bühne der Geschichte. Der jüdische Staat war bereits von den Römern zerstört worden, während das Christentum zur Staatsreligion im Römischen Reich avanciert war, dessen machtpolitischer Mittelpunkt nun im Osten, in Byzanz lag. Die arabischen Völker waren zu dieser Zeit in Clans zersplittert, die eifersüchtig über ihre Pfründe wachten und nicht selten einander befehdeten. Sie drohten, zur leichten Beute der mächtigen Nachbarn zu werden. Es war dringend erforderlich, die zerstrittenen Clans unter einem Führer zu einen. Nur so würde es möglich sein, die Unabhängigkeit ihrer Völker zu sichern und die eigenen Traditionen zu bewahren. Dieses zeitgeschichtliche Erfordernis trug sicher dazu bei, dass der Islam als Religion, die die Einheit der Völker durch die Verehrung eines Gottes und seines Propheten beförderte, schnelle Verbreitung fand.
In der Zeit der großen Entdeckungen verstärkte sich in Europa die bürgerliche Entwicklung. Diese Entdeckungen veränderten nicht nur das Bild der Menschen von der Welt, auch das Menschenbild war im Wandel begriffen. Die Vorstellung vom Menschen als unmündigem Lamm in Gottes und der Kirche Herde entsprach nicht mehr dem Geist der Zeit. Außerdem hatten die Wissenschaften wahrhaft revolutionäre Erkenntnisse erbracht und viele Thesen der christlichen Lehre erschüttert. Die Religion war nicht mehr Speicher des Wissens über die Natur, im Gegenteil, sie wurde, indem sie an ihren Dogmen festhielt, zum Hindernis des wissenschaftlichen Fortschritts. Auch die Gesellschaft veränderte sich zusehends. Diese Veränderungen fanden in Bestrebungen zur Reform der Kirche ihren Niederschlag. Radikalere Kritiker der bestehenden Verhältnisse lösten sich vollends von der Religion. Ihre Theorien über das Zusammenleben und die Perspektiven seiner Entwicklung nannte man Ideologien.
Die Entstehung religiöser und anderer Weltanschauungen war also immer Bestandteil des Versuchs der Menschen, sich die Welt zu erklären. Dort, wo Wissen fehlte, nahm man den Glauben an höhere Wesen oder einen erträumten Idealzustand der Gesellschaft zur Hilfe. Jedes dieser Glaubensbekenntnisse ist in meinen Augen gleichermaßen legitim, denn letztlich hat keines eine nachprüfbare Gewissheit auf seiner Seite. Diese Legitimität endet jedoch, sobald nachprüfbares Wissen vorhanden ist und doch geleugnet wird. Sie schlägt in Verbrechen um, wenn der eigene Glaube anderen aufgezwungen werden soll.
Bild: greekmythology.wikia.com
zuletzt geändert: 27.05.2019