Es werde Mensch

Schöpfung

Irgendwie ist mir bei diesem Thema Michelangelos Fresco in der Sixtinischen Kapelle, speziell die Erschaffung des Menschen, in den Sinn gekommen. Würde man heute ein Bild über den Schöpfungsakt malen, dann sollte der erste Mensch aber eher eine dunkle Hautfarbe, schwarze Haare und braune Augen haben. Schließlich kam er aus Afrika. Dass er in einem Schöpfungsakt entstanden sei, könnte man dagegen durchgehen lassen, erscheint doch das Auftauchen des modernen Menschen, gemessen an den Zeiträumen, in denen sich die Evolution vollzog, wie eine Laune der Natur. Diese Laune hatte allerdings eine lange Vorgeschichte.

Die erste Art, die der Gattung Mensch zugerechnet wird, ist der Homo habilis.1) Er begann seinen Weg vor rund 2,5 Millionen Jahren, wobei sich sein Aussehen bereits deutlich von dem der äffischen Primaten unterschied. Er konnte seine Hände geschickt einsetzen und einfache Werkzeuge herstellen. Darüber hinaus war er ein guter Läufer, der es vermochte, den Wildherden zu folgen und ab und an Fleisch zu erbeuten, dessen Nährstoffreichtum seiner weiteren Entwicklung zugute kam. Ausdauerndes Laufen verbraucht jedoch viel Energie, die durch Verbrennungsprozesse freigesetzt wird. Dabei entsteht Wärme, die, soll der Körper nicht überhitzen, schnell nach außen abgegeben werden muss. Ein dichtes Fell ist da nur hinderlich. Der Homo habilis entledigte sich seines Pelzes und lief fortan nackt durch die Savanne. Außerdem bildete er Drüsen aus, die bei großer Anstrengung Flüssigkeit absondern, durch deren Verdunstung dem Körper Wärme entzogen wird. Mit den Haaren fiel jedoch auch der Schutz der Haut vor den harten Strahlen der afrikanischen Sonne weg. Sie bildete nun dunkle Pigmente, die einen großen Teil dieser Strahlung absorbieren.

Die läuferischen Fähigkeiten waren zur Überlebensgarantie des Homo habilis geworden. Für ausdauerndes Laufen ist ein schmales Becken von Vorteil. Durch die nährstoffreiche tierische Nahrung wurden die Homo habilis jedoch größer, auch das Gehirn nahm an Volumen zu. Der ebenfalls größer werdende Kopf, der zum Schutz des Gehirns bereits bei der Geburt eine relativ stabile Form besitzt, machte jedoch einen breiteren Geburtskanal erforderlich, der wiederum nicht mit einem schmalen Becken vereinbar war. Außerdem verbraucht so ein Gehirn viel Energie, deren Bereitstellung im Mutterleib an Grenzen stieß. Was auch immer der ausschlaggebende Grund gewesen sein mag, jedenfalls verkürzte sich die Tragezeit der Homo habilis. Damit verlagerte sich ein größerer Teil des Wachstumsprozesses in die nachgeburtliche Phase, was wiederum eine längere und aufwendigere Fürsorge für die Neugeborenen erforderlich machte. Diese Aufgabe fiel naturgemäss den Frauen zu. Während die Männer den Wildherden folgten, um tierische Nahrung zu beschaffen, blieben die Frauen im Lager, wo sie die Kinder hüteten und durch das Sammeln von Wurzeln und Früchten zur Ernährung beitrugen.

Mit dem Wachstum des Gehirns nahm das geistige Potenzial der Menschen zu. Sie waren zunehmend in der Lage, ihre Werkzeuge den Erfordernissen anzupassen und neue Jagdstrategien zu erproben. Auch das Zusammenleben in der Gruppe entwickelte sich, so dass höhere Anforderungen an die Kommunikation untereinander entstanden. Fortschritte in der Kommunikation kamen wiederum der gemeinsamen Jagd und damit der Ernährung zugute. Peu á peu ging die Entwicklung voran, manchmal machte sie wohl auch Umwege. Wie dem auch sei, vor rund 1,9 Millionen Jahren hatte sich eine neue Spezies der Gattung Mensch, der Homo ergaster, herausgebildet, die dem heutigen Menschen schon ziemlich ähnlich sah. Der Homo ergaster war ebenfalls ein ausdauernder Läufer. Außerdem war er ein zunehmend erfolgreicher Jäger, dessen Beute nicht mehr nur aus verletzten oder verendeten Tieren bestand. Der Faustkeil war sein universelles Werkzeug, das er mit großem Geschick zu fertigen und einzusetzen wusste. Er schützte seinen Körper mit Kleidern, die aus Tierfellen und Häuten gefertigt wurden. Das ganz große Ding war jedoch, dass es dem Homo ergaster gelang, das Feuer zu bändigen, das heißt, es selbst zu entfachen und zu seinem Nutzen einzusetzen. Die meisten Räuber der Nacht hatten zum Beispiel Angst vor dem Feuer, so dass man sie mit einem brennenden Scheid verjagen konnte. Außerdem spendete das Feuer Wärme, die in kalten Nächten sehr willkommen war. Es stellte sich auch heraus, dass mit seiner Hilfe die Nahrung aufbereitet werden konnte, die dadurch haltbarer und bekömmlicher wurde. Das Feuer stabilisierte also die Ernährungsbasis des Homo ergaster, was für seine weitere Entwicklung große Bedeutung erlangte.

Wenig später, was sind schon hunderttausend Jahre in den Dimensionen der Evolution, trat ein weiterer Vertreter der Gattung Mensch ins Rampenlicht, der Homo erectus. Er scheint aus Populationen des Homo ergaster hervorgegangen zu sein, die auf der Suche nach neuen Jagdgründen in Richtung Asien gewandert waren. Auch der Homo erectus war ein ausdauernder Läufer. Er ersann neue Jagdstrategien, um mehr und vielfältigere Beute zu machen. So fand man nicht nur Pfeil- und Speerspitzen, sondern auch Harpunen und Angeln, die ihm zugeordnet werden. Er benutzte Werkzeuge, die von ihm weiterentwickelt oder gar neu ersonnen wurden. Darüber hinaus fand man von ihm gefertigten Schmuck, den man als Ausdruck eines gestiegenen Selbstbewusstseins ansehen kann. Die allgemein größer gewordene Bandbreite der Fertigkeiten brachte es nämlich mit sich, dass einzelne durch besondere Fähigkeiten auf dem einen oder anderen Gebiet auffielen. Sie hoben sich von anderen ab, was sie selbst durch besondere Kleidung oder durch Schmuck unterstrichen. Die soziale Struktur der Gruppen war vielschichtiger geworden, wodurch sich auch das Bedürfnis nach Kommunikation entwickelte. Immer mehr Lautkombinationen und ganze Lautfolgen wurden für die Bezeichnung der Dinge und Sachverhalte benötigt. In diesem Kontext entwickelten sich die geistigen Fähigkeiten des Homo erectus weiter, auch physische Veränderungen zur besseren Lautbildung, wie die Absenkung des Kehlkopfes, vollzogen sich.

Der Homo ergaster wie auch der Homo erectus existierten rund eine Millionen Jahre. In dieser langen Zeitspanne entstanden immer wieder Gruppen, die sich durch besondere Merkmale und Eigenschaften auszeichneten. Waren sie sich im Überlebenskampf erfolgreich, dann breitete sich ihre Population aus, so dass einige von ihnen zu eigenständigen Arten avancierten. Besondere Bedeutung für die Herausbildung des modernen Menschen erlangte der Homo heidelbergensis, der vor rund 800.000 Jahren in Afrika in Erscheinung trat. Er war ein muskulöser Jäger, der mit seinen hölzernen Wurfspeeren auch größere Tiere erlegte. Sein großes Gehirn deutet darauf hin, dass er über ausgeprägte Sinne verfügte, die ihm bei der Jagd aber auch beim Schutz vor gefährlichen Raubtieren gute Dienste leisteten. Auf ihren Streifzügen gelangten Gruppen dieser Spezies nach Europa und Asien, andere blieben in Afrika. Die Gruppen, die nach Europa kamen, fanden ausreichend Wild vor. Außerdem gab es dort deutlich weniger krankmachende Insekten, die in manchen Teilen Afrikas das Leben nahezu unmöglich gemacht hatten. Dafür mussten im Norden Klimaschwankungen mit wiederkehrenden Perioden lebensfeindlicher Kälte in Kauf genommen werden. Die Kälteperioden konnten tödlich sein, nur die stärksten hatten eine Überlebenschance. In dem daraus resultierenden Auswahl- und Anpassungsprozess entstand vor rund 200.000 Jahren die Spezies der Neandertaler.1)

Der Neandertaler war noch muskulöser und stämmiger als seine Vorfahren. Die große Körperkraft gepaart mit ausgeprägten Sinnen ließ ihn zu einem erfolgreichen Großwildjäger werden. Auch seine handwerklichen Fähigkeiten waren beachtlich. Der Neandertaler stellte Werkzeuge, wie Faustkeile, Schaber, Spitzen und längliche Klingen, her, die er dem jeweiligen Verwendungszweck anpasste.2) Er bearbeitete Tierfelle und fertigte daraus Kleidung und Decken, um sich vor der Kälte zu schützen. Außerdem gilt der Neandertaler als Erfinder des Klebstoffs. Er benutzte Birkenpech, um damit Steinspitzen an Speeren zu befestigen. Mit diesen Waffen konnte er sogar Mammuts attackieren. Die Großwildjagd erbrachte viel Fleisch, das er über lange Zeit genießbar halten konnte, hatte er den Kühlschrank doch quasi vor der Haustür. Die Großwildjagd war allerdings auch ein gefährliches Unterfangen, denn aus Verletzungen konnten dauerhafte körperliche Schäden entstehen. Diese insgesamt schwierigen Lebensbedingungen schlugen sich in einer relativ geringen Lebenserwartung der Neandertaler nieder. Daher waren die sozialen Gruppen, in denen sie lebten, eher klein. Sie beschränkten sich meist auf die engere Familie.

In Afrika ging aus dem Homo heidelbergensis ebenfalls eine neue Art hervor, der Homo sapiens. Auch er hatte mit den Unbilden der Natur zu kämpfen. In Afrika waren es wiederkehrende Dürreperioden, die dazu führten, dass nur diejenigen eine Überlebenschance besaßen, die in der Lage waren, ausreichend tierische Nahrung zu erbeuten. In der Savanne war dazu allerdings nicht so sehr ein Zuwachs an körperlicher Kraft gefragt, als vielmehr eine weitere Verbesserung der läuferischen Fähigkeiten. Vor diesem Hintergrund griffen genetische Veränderungen Raum, die den Homo sapiens zu einem überaus ausdauernden Läufer werden ließen.3) Er war in der Lage, Wild bis zur Erschöpfung zu hetzen. Außerdem war er gewitzt genug, sich im vorhinein Depots mit Wasser und Nahrung anzulegen, die ihm bei langen Verfolgungsjagden halfen. Jedenfalls kann man noch heute bei einigen afrikanischen Stämmen ein ähnliches Verhalten beobachten. Ausdauer und geistige Flexibilität waren aber nicht nur für die Jagd von Bedeutung, sie waren auch wichtige Voraussetzungen, um anderen Jägern, wie schnellen und wendigen Raubkatzen, zu entkommen. Mitunter war es erforderlich, blitzschnell auf eine gefahrvolle Situation zu reagieren, um sein Leben zu retten. Seine geistige Beweglichkeit verhalf den Homo sapiens auch zu neuen Ideen für die Verbesserung der Waffen und Werkzeuge. Darin waren sie ihren Vettern im kalten Europa voraus. Gemeinsam war ihnen der Drang zur Wanderschaft, der aus der stetigen Suche nach jagdbarem Wild erwuchs. Während die Neandertaler dabei weite Teile Asiens erkundeten, verbreiteten sich die Homo sapiens über den afrikanischen Kontinent, bevor sie vor rund 125.000 Jahren in den Nahen Osten vordrangen. Von dort verschlug es sie nach Asien, Australien und nach Europa, wo sie Gebiete, aus denen andere Menchenarten verschwunden waren, besetzten.

Wieso aber konnten die Homo sapiens während der Eiszeit nach Europa einwandern und dort überleben, obwohl sie als Afrikaner doch eigentlich nicht für dieses Klima geschaffen waren? Und wieso überlebten die Neandertaler, die doch eigentlich perfekt den klimatischen Bedingungen angepasst sein sollten, diese Zeit nicht? Die Neandertaler waren zwar gut an die rauen klimatischen Verhältnisse des Nordens angepasst, trotzdem machten ihnen die Klimaschwankungen und vor allem die drastischen Kälteeinbrüche schwer zu schaffen. Sie waren kräftige Jäger, aber ihre Muskeln wie auch ihr großes Gehirn verbrauchten viel Energie. Wurde die Jagd schwieriger, weil Teile des Wilds einen Kälteeinbruch nicht überlebt hatten oder davongezogen waren, dann wurde es auch für die Neandertaler eng. Ihre Energiebasis und damit auch ihre Überlebenschancen schwanden dahin. Immer wieder wurde die Population dezimiert und in einzelnen Gebieten sogar gänzlich ausgelöscht. Man geht davon aus, dass selbst in besten Zeiten höchstens 70.000 ihrer Art in den Weiten des Nordens von Spanien bis Sibirien unterwegs waren.2) In schlechten Zeiten mögen es deutlich weniger gewesen sein, die in kleinen Gruppen und mit wenig Kontakt untereinander umherzogen. Unter solchen Umständen konnte schon das unglückliche Aufeinandertreffen mehrerer lebensfeindlicher Faktoren zum Erlöschen der gesamten Population führen. Dies war offensichtlich vor rund 39.000 Jahren der Fall.

Aber da ist immer noch die Frage, wieso die Homo sapiens dort überleben konnten, wo die Neandertaler ausstarben. Während die Neandertaler für die Großwildjagd starke Muskeln und scharfe Sinne entwickelt hatten, die viel Energie verbrauchten, besaßen die Homo sapiens als ausdauernde Läufer einen eher schmalen Körperbau, der deutlich weniger Energie benötigte. Sie waren zur Deckung ihres Bedarfs nicht auf die Großwildjagd angewiesen. Kleinere Tiere, ergänzt durch pflanzliche Kost, konnten durchaus ihren Energiehunger stillen. Allerdings, wer weniger verbrennt, produziert auch weniger Wärme und friert schneller. Diesen Nachteil glichen die Homo sapiens durch bessere Kleidung aus. Außerdem beherrschten sie das Feuer perfekt. Sie nutzten es nicht nur als Wärmequelle sondern auch zur vielfältigen Aufbereitung der Nahrung. Es wurde nicht nur Fleisch gegart, auch Pflanzen und deren Früchte, darunter solche, die sonst nur schlecht oder gar nicht für die Ernährung nutzbar waren, konnten zubereitet werden. Und sie brachten Neuerungen, wie die Gärung, mit, so dass die Kost alternativreicher wurde, mitunter wohl auch berauschend war. Insgesamt verhalf ihnen ihre geistige Beweglichkeit zu Vorteilen im Überlebenskampf.

Waren die Homo sapiens intelligenter als die Neandertaler, obwohl ihr Gehirn doch offensichtlich kleiner war? Das geistige Potenzial einer Art wird im wesentlichen aus zwei Quellen gespeist, aus den Fähigkeiten zur Gewinnung und Verarbeitung von Informationen und aus dem zugänglichen Fundus an Erfahrungen. Grundlage für geistige Prozesse sind die aus der Umwelt gewonnenen Informationen. Mag sein, dass die Neandertaler leichte Vorteile ob der Schärfe ihrer Sinne besaßen, doch in Bezug auf die ihnen möglichen Wahrnehmungen sollten die Gemeinsamkeiten der Arten überwogen haben. Auch die Art und Weise mit der Informationen verarbeitet werden, das Vermögen zur Abstraktion und Kombination, ist bei beiden Arten wohl ähnlich ausgeprägt gewesen. Höhlenmalereien zeugen jedenfalls davon, dass auch die Neandertaler durchaus über diese Fähigkeiten verfügten. Gleiches gilt für die grundsätzliche Fähigkeit zur Speicherung und Weitergabe von Erfahrungen. Wenn sie sich in ihren geistigen Fähigkeiten aber so wenig unterschieden, worin war dann die intellektuelle Überlegenheit der Homo sapiens begründet?

Der entscheidende Unterschied zwischen den Arten entstand durch die sozialen Verbünde, in denen sie lebten. Die Neandertaler zogen in kleinen, auf die engere Familie beschränkten Gruppen durch die Lande, wobei sie nur selten auf ihresgleichen trafen. In diesen, auf die gemeinsame Jagd fokussierten Gemeinschaften entstanden wenig Anreize zur Entwicklung der Kommunikation. Die Gruppen der Homo sapiens waren dagegen immer größer geworden, nicht zuletzt, weil die gesamte Population wuchs. Dieses Wachstum fußte auf einer breiteren Ernährungsbasis, die eine schnellere Geburtenfolge ermöglichte. Außerdem nahm die Lebenserwartung der Individuen zu, vor allem weil sie sich besser zu schützen vermochten und weil sie nicht auf die gefährliche Großwildjagd angewiesen waren. In den größer werdenden Gemeinschaften fanden sich naturgemäss auch öfter Individuen, die über besondere Fähigkeiten verfügten und die mit ihren Kenntnissen den Erfahrungsschatz der Gemeinschaft in besonderem Maße bereicherten. Damit diese Erfahrungen dauerhaft die Lebensgrundlagen stärken konnten, mussten sie in den Gemeinschaften bewahrt, das heißt weitergegeben werden. Dadurch entstanden Anreize zur Entwicklung der Kommunikation, die ihrerseits den sozialen Zusammenhalt stärkte. Der stetig wachsende Schatz an Erfahrungen wurde zum entscheidenden Vorteil des Homo sapiens. Mit ihm konnte er auch dort überleben, wo andere Arten der Gattung Mensch keine Chance hatten. Ob er selbst beim Untergang anderer nachgeholfen hat, ist nicht erwiesen. Fakt ist aber, dass der Homo sapiens zur einzig verbliebenen Art der Gattung Mensch avancierte. Er wurde zum „modernen“ Menschen.

zuletzt geändert: 02.10.2019

Quellen:

1) Der Neandertaler, GEO kompakt Nr. 41, 2014 – Der dort skizzierte Stammbaum des Menschen wurde hier zugrundegelegt. Es sei darauf verwiesen, dass auch andere Modelle diskutiert werden.

2) Josef H. Reichholf, Das Rätsel der Menschwerdung

3) Ulrich Bahnsen, Familie Mensch, Die Zeit Nr. 39/2016 vom 15.09.2016

Quelle Artikelbild – Ausschnitt aus der Bemalung der Sixtinischen Kapelle in Rom, Michelangelo

 

Gemeinsam sind wir nicht allein

Elefanten

Die Straße scheint ja gerade noch breit genug zu sein, damit alle schön nebeneinander laufen können. Die Großen am Rand schützen die Flanken. Die Kleinen sind mittendrin, wohlbehütet. Auf diese Weise ist die Gruppe sicher. Anscheinend hat ihnen aber niemand gesagt, dass sie auch auf Autos achten sollten. Die Evolution hat nämlich irgendwann fahrende Blechschüsseln hervorgebracht, die nun die Wege unsicher machen. Das Überleben wird immer schwieriger, nicht nur für Elefanten.

Im Laufe der Evolution wuchsen die Möglichkeiten der Tiere, verschiedenartige Informationen in einen Entscheidungsprozess einzubeziehen. Dazu werden die Informationen, die die Sinneszellen über die Außenwelt liefern, mit Erfahrungen abgeglichen und bewertet. Die Bewertungen spiegeln sich in Gefühlen wider, mit denen die Informationen in die Prioritätenfindung eingehen. Außerdem kommen Informationen über die eigene Befindlichkeit hinzu, denn auch Hunger, Durst oder Müdigkeit können das Verhalten beeinflussen, Krankheiten oder Schmerzen die körperlichen Möglichkeiten beschränken. Ein Reh mit einem verletzten Lauf hat keine Chance dem Wolf durch Flucht zu entkommen. Seine Entscheidung kann nur darin bestehen, sich zu verstecken und zu hoffen, dass Isegrimm nicht aufmerksam wird. Will sich das Reh verstecken, muss es eine Vorstellung von sich selbst haben. Größe und Fellfarbe müssen mit dem gewählten Versteck harmonisieren, damit es dem geübten Auge des Räubers entgeht. Mag sein, dass in diesem Fall die Kriterien für ein Versteck nicht aus der Selbstreflexion des Rehs erwachsen, sondern instinkthaft vorhanden sind. Mit der Zeit gewannen die Tiere jedoch immer mehr Fähigkeiten, die nur sinnvoll eingesetzt werden konnten, wenn auch eine Vorstellung von der eigenen Verfasstheit vorhanden war. Ist der Arm zu kurz, um an das Leckerli zu gelangen, wird sich das Äffchen nach mehreren nutzlosen Versuchen womöglich ein Stöckchen nehmen und sich mit dessen Hilfe den Happen angeln. Damit hat es etwas über seine körperliche Begrenztheit erfahren und gleichzeitig sein Verhalten darauf eingestellt.

Die Einschätzung der eigenen Möglichkeiten gewinnt in einer Gruppe besondere Bedeutung. Eine Gruppe, ein sozialer Verbund, funktioniert nur, wenn jeder seine Stellung und seine Aufgaben kennt und entsprechend handelt. Das Kennen der eigenen Aufgaben schließt ein, dass man eine Vorstellung davon hat, welche Stellung die anderen im Verbund innehaben. Dazu muss man sie auseinanderhalten, das heißt man muss die anderen anhand physischer Besonderheiten, wie Geschlecht, Alter und Körpergröße oder auch nach ihrem Geruch, dem Klang ihrer Stimme oder anderen Merkmalen unterscheiden. Wenn man die anderen unterscheiden kann, dann entsteht das Bedürfnis, auch sich selbst von anderen, zum Beispiel über physische Besonderheiten, abzugrenzen. Einige Tierarten haben darüber hinaus eine recht differenzierte Vorstellung von ihrem eigenen Abbild entwickelt, so dass sie ihr Spielbild erkennen. Dieses visuelle Erkennen führt zu einer Bewertung des eigenen Bildes, und sei es drum, dass da ein ärgerlicher Fleck auf dem Federkleid ist, der da nicht hingehört. Neben äußeren Merkmalen spielt auch die Körperkraft eine wichtige Rolle bei der Unterscheidung der Akteure. Sie kann für die Stellung in der Gruppe sogar entscheidend sein, denn der stärkste wird Chef, dem alle anderen Gehorsam schulden. Auf diese Weise bildet sich eine Hierarchie heraus, die zu einem wichtigen Merkmal des Lebens der Gruppe wird. Sie hilft, das erforderliche Zusammenwirken zu sichern, außerdem befördert sie die natürliche Auslese, da es dem Chef vorbehalten ist, seine Gene weiterzugeben.

Die Entstehung sozialer Gruppen ist eng mit der Entstehung des Gedächtnisses und der Herausbildung von Entscheidungsprozessen verbunden. In diesem Sinne sind Fischschwärme oder Insektenstaaten keine sozialen Gruppen. Ihr Verhalten wird durch ererbte Automatismen des Handelns bestimmt, eine Bewertung von Situationen oder Verhaltensweisen findet nicht statt. Dinosaurier waren dagegen bereits in der Lage, komplexe Situationen zu erfassen und Entscheidungen zu Handlungsalternativen herbeizuführen. Die soziale Struktur ihrer Gruppen war zwar, soweit man weiß, gering ausgeprägt, trotzdem verschaffte ihnen die Gemeinschaft Vorteile im Überlebenskampf. Mit der Gruppe fand man schneller Wasser oder Nahrung beziehungsweise man konnte sich wirksamer gegen Angreifer verteidigen. Um die Vorteile, die eine Gemeinschaft bieten kann, auszuschöpfen, mussten sich die Akteure irgendwie untereinander verständigen, das heißt, Mittel zur Kommunikation entwickeln.

Nach der großen Katastrophe und dem Untergang der Dinosaurier traten Säugetiere und Vögel deren Erbe an. Vögel bilden sehr unterschiedliche Zweckbünde. Wir beobachten zeitweise oder dauerhafte Brutpaare genauso wie Fluggemeinschaften in entfernte Weltengegenden oder Gruppen, die in einem gemeinsamen Lebensraum den Nachwuchs behüten. Hierarchien spielen in diesen Gemeinschaften kaum eine Rolle. Das sieht bei den Säugetieren anders aus. Zwar sind die sozialen Gruppen der Säugetiere ebenfalls vielgestaltig, es entstanden kleine Familienverbände genauso wie große Herden, aber eine Rangordnung ist in ihnen die Regel. Zum Anführer einer Herde schwingen sich meist die stärksten Tiere auf, mitunter auch die klügsten. Sie stehen für eine längere Zeit an der Spitze der Hierarchie. Wenn es dagegen in Vogelschwärmen notwendig wird, dass ein Tier die Führungsrolle übernimmt, dann wechseln sich die Tiere in dieser Aufgabe ab. Beiden Varianten ist gemeinsam, dass die Verantwortung der Entscheidungsfindung an den Anführer abgegeben wird, obwohl jedes einzelne Tier fähig wäre, Entscheidungen zu treffen. Sehr eindrucksvoll lässt sich dies bei Pferden beobachten, die am liebsten blind dem Leittier folgen. Signalisiert dieses eine Gefahr, rennen alle los, als wären sie selbst gerade gebissen worden. Herdentrieb soll allerdings auch bei Menschen schon beobachtet worden sein.

Mit der Zunahme der geistigen Fähigkeiten wurden auch die sozialen Beziehungen in den Gruppen vielschichtiger. Das Zusammenleben basierte nun nicht mehr nur auf der Unterordnung unter ein Leittier, es bildeten sich darüber hinaus unterschiedlich gefärbte Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gruppe aus. In solchen Gruppen werden die einzelnen von den anderen nicht nur erkannt, sondern ihnen wird unabhängig von der Rangstellung auch eine Bewertung beigegeben. Diese Bewertung drückt sich in einem Gefühl aus, das mit dem jeweiligen Individuum verbunden wird und dadurch das Verhalten zu ihm beeinflusst. Mit einigen pflegt man engeren Kontakt, weil man sie mag, anderen geht man lieber aus dem Wege. Die Bewertung, die dem einzelnen beigegeben wird, kann durch die eigene Lebenserfahrung, durch Vorlieben oder auch durch besondere Erlebnisse beeinflusst sein. Hat jemand in einer schwierigen Situation geholfen oder Schutz gewährt, dann wird dieses Erlebnis die Beziehung des Betreffenden zum Helfer prägen. Das damit verbundene Gefühl könnte man als Dankbarkeit beschreiben. Aber auch Zorn über erfahrene Nichtachtung, Neid auf den Erfolg des anderen oder Abscheu als Ausdruck völliger Ablehnung können solche besonderen Beziehungen ausdrücken. Die Einschätzung, die mit anderen verbunden wird, ist aber nicht nur durch eigene Erlebnisse bestimmt, denn auch andere haben Erfahrungen mit diesem und jenem, die sie nur allzu gern weitergeben. Die Weitergabe einer Bewertung kann bereits durch das Verhalten dem Betreffenden gegenüber erfolgen, da es von anderen beobachtet wird. Umgekehrt, lassen sich aus dem Verhalten der anderen Schlüsse zur eigenen Stellung in der Gruppe ziehen. Bewertungen werden aber auch auf direktem Wege kommuniziert, zumal auf diese Weise gezielt Einfluss auf das Verhalten der Gruppe genommen werden kann.

Wahrscheinlich sind die nach und nach erreichten Fortschritte in der Kommunikation auf die Erfordernisse des Zusammenlebens zurückzuführen, manche sind allerdings der Meinung, dass der Drang nach Klatsch und Tratsch dafür entscheidend war. Wie dem auch sei, die Mittel zur Kommunikation wurden im Laufe der Evolution vielfältiger. Begonnen hatte alles mit Botenstoffen, die bereits von den Einzellern genutzt wurden, um Kollonien zu bilden. Botenstoffe sind auch für Pflanzen das vorherrschende Kommunikationsmittel. Tiere können sich darüber hinaus durch Bewegungen verständigen. Bei Bienen beobachtet man zum Beispiel, dass sie sich mit einem „Tanz“ auf Nahrungsfundorte aufmerksam machen. Diese Kommunikation beruht darauf, dass ein bestimmtes Verhalten mit einer festgelegten Bedeutung verbunden ist. Diese Bedeutung muss die Biene nicht erlernen, dieses „Wissen“ ist in ihren Genen verankert.

Den Tieren, die auf im Gedächtnis gespeicherte Erfahrungen zurückgreifen können, eröffneten sich neue Möglichkeiten, was nicht heißt, dass auf bereits bewährte Mittel der Kommunikation verzichtet wurde. Botenstoffe werden zum Beispiel weiterhin genutzt, um bestimmte körperliche Dispositionen zu signalisieren. Ist der Körper der Hirschkuh zur Empfängnis bereit, setzt er einen Stoff frei, der, so er vom König des Waldes registriert wird, bei diesem Paarungsdrang auslöst. Auch Bewegungen, die instinktiv verstanden werden, bleiben im Repertoire. Dass das Schwanzwedeln mit erhobener Rute eine freudige Erregung ausdrückt, braucht der junge Hund nicht zu lernen, es gehört zu seinem ererbten Wissen. Dass der aufgestellte Schwanz der Katze nichts mit freudiger Erwartung zu tun hat, kann er dagegen nur schwerlich begreifen. Schmerzhafte Erfahrungen werden ihn lehren, solchen Tieren tunlichst aus dem Weg zu gehen. Mit der Entwicklung des Gedächtnisses erlangt die Kommunikation jedoch größere Flexibilität, da die Laute und Gesten wie auch die Körpersprache und die Mimik nun je nach Situation variiert werden konnten. Diese Flexibilität hatte aber einen Preis, denn die Bedeutung der immer vielfältiger gewordenen Laute und Gesten konnte nicht mehr vererbt werden, man musste sie erlernen.

Das Lernen, das heißt die Übernahme von Erfahrungen und Wissen, gewann für das Leben der Gemeinschaften insgesamt größere Bedeutung. Lernen kann man zum Beispiel durch das Nachahmen von Handlungen. Sieht die junge Katze, wie die Mutter eine Maus jagd, wird sie versuchen, es ihr nachzutun. Mit dem Nachahmen entsteht eine eigene Erfahrung, die vom Gedächtnis bewahrt wird. Erfahrungen können auch durch das gezielte Vorspielen eines Geschehens weitergegeben werden. Auf diese Weise kann für den Lernenden das gute Gefühl des Erfolgs einer Handlung wie auch das unangenehme einer Niederlage erfahrbar werden, auch wenn er selbst nicht am Geschehen beteiligt war. Im Alltag kann man das erforderliche oder erwartete Verhalten allerdings nicht jedes Mal vormachen, um jemanden zu einer entsprechenden Handlung zu bewegen. Die dafür notwendige Zeit wäre schlicht nicht vorhanden. Für die Verständigung zu den täglichen Anforderungen und Notwendigkeiten braucht man Signale, die ein bestimmtes Verhalten einfordern. Diese Signale muss man kennen, also irgendwann erlernt haben, damit sie abgerufen werden können. Einen Hund kann man zum Beispiel trainieren, dass er Befehle in Form von Lautfolgen oder Gesten erkennt und das erwartete Verhalten abliefert. Das ist möglich, weil die Fähigkeit, Zeichengebungen oder Laute mit einem bestimmten Verhalten zu verbinden, in der Natur des Hundes angelegt ist. Sie spielt offensichtlich auch bei der Kommunikation im Rudel eine Rolle.

Mit der wachsenden Bedeutung der Gemeinschaft für das Leben des einzelnen wuchs auch der Stellenwert der sozialen Beziehungen für die Beurteilung einer Situation. Die sozialen Beziehungen wurden neben der natürlichen Umwelt und dem eigenen Körper zur dritten Wirklichkeit, mit der man sich bei seinen Entscheidungen auseinandersetzen musste. Welch hohen Stellenwert die Gruppe für den einzelnen haben kann, lässt sich bei Menschenaffen sehr gut beobachten. Ähnliches gilt sicher auch für unsere Vorfahren, deren Entwicklung nicht nur durch die Fertigung von immer besseren Werkzeugen und eine beginnende Arbeitsteilung gekennzeichnet war, sondern auch durch die zunehmende Vielfalt, mit der sie untereinander kommunizierten. Parallel dazu wurden die sozialen Beziehungen in ihren Gemeinschaften vielschichtiger. Sie waren nun häufig von Sympathien oder Antipathien geprägt, so dass gleiche Ereignisse eine unterschiedliche Bewertung erfahren konnten, abhängig davon, wen sie betrafen. Das Missgeschick eines anderen konnte Mitgefühl auslösen, wenn dieser andere zu den Freunden zählte, oder Schadenfreude, wenn dies eher nicht der Fall war. Der Verlust eines Nahestehenden war ein schmerzliches Ereignis, der Tod eines Gegners wurde möglicherweise als Triumph empfunden.

Die sozialen Beziehungen nehmen auch auf die Gefühle, die mit der Reflexion eigener  Entscheidungen verknüpft sind, Einfluss. Eine solche Reflexion kann beispielsweise Zufriedenheit oder Ärger, vielleicht auch Bedauern auslösen. Mit „Bedauern“ wird ein Gefühl bezeichnet, das aus einem Misserfolg resultiert und zur Infragestellung der vorausgegangenen Entscheidung führt. Damit kann es einen Lernprozess befördern. Falls die Handlung nicht nur kein Erfolg war, sondern sogar Nachteile brachte, dann kann es sein, dass es nicht bei dem Bedauern bleibt, sondern dass auch „Ärger“ entsteht. Das heißt, das Gefühl fällt stärker aus, so dass nicht nur die Entscheidung in Frage gestellt wird, sondern die Zweifel auch auf den Entscheider zurückfallen. Falls noch jemand anderes Einfluss auf die Entscheidung genommen hatte und so den Misserfolg mitbegründete, richtet sich der Ärger oder Zorn womöglich gegen diesen. Stellte sich eine eigene Entscheidung, die andere Mitglieder der Gruppe betraf, als falsch heraus, dann wird dies meist als peinlich empfunden. Diese Pein ist ein starkes Gefühl, weil mit einem solchen Fehler die eigene Stellung in der Gruppe untergraben werden kann. Noch gravierender ist es, wenn man die Versehrtheit oder den Tod eines anderen verursacht. Diese Schuld verlangt Sühne. Aus ihr kann ein Konflikt, der die gesamte Gruppe betrifft, erwachsen.

Mit der Herausbildung eines vielschichtigen Geflechts sozialer Beziehungen entstand auch die Möglichkeit, dass nicht der Stärkste oder Geschickteste zum Anführer wurde, sondern dass insgeheim geschmiedete Bündnisse die Macht eroberten. Die Intrige trat ins Leben. Eine ihrer Besonderheiten besteht darin, dass nicht Sympathie das Kriterium für die Auswahl der Bündnispartner ist, sondern ein Kalkül, das auf Machtzuwachs zielt. Macht sichert den Zugang zur besten Nahrung und sie eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für die Verbreitung des eigenen Samens. Sie ist mit guten Gefühlen verbunden, weshalb jedes Mittel recht erscheint, ein solches Bündnis zu schmieden. Dazu werden schon mal Pläne der anderen ausspioniert, eigene Chancen übertrieben oder Rivalen verleumdet. Die wachsenden geistigen Fähigkeiten zielten also bereits bei unseren Vorfahren nicht immer auf Nutz und Frommen der Gemeinschaft. Immerhin, die machtgierigen Ränkeschmiede bildeten auch bei ihnen nur einen Teil der Gruppe, ein anderer versuchte Streit zu schlichten und ein friedliches Miteinander zu bewahren.

zuletzt geändert: 10.09.2019

Bild: green-tiger.de

Was ist „Bewusstsein“?

wolf

Als ich dieses Bild sah, habe ich mich gefragt, ob dieser Hund gerade den Sonnenuntergang genießt und dabei so etwas wie eine romantische Stimmung verspürt. Na ja, vielleicht ist das zu „menschlich“ gedacht. Wie ist das aber mit dem Bewusstsein? Haben Tiere ein Bewusstsein und was ist „Bewusstsein“ überhaupt? Tragen wir dazu noch einmal zusammen, was wir zu den Prozessen der Informationsgewinnung und -verarbeitung herausgearbeitet haben.

Wir hatten unsere Überlegungen über die Welt mit den Wahrnehmungen begonnen. Beim Nachdenken darüber, wie unsere Sinne funktionieren, war klar geworden, dass sie uns auf verschiedene Weise Informationen zu Strukturen und Bewegungen in unserer Umwelt vermitteln. Die sinnlichen Attribute dieser Wahrnehmungen, wie Helligkeit, Farben, Geräusche, Geschmack oder Geruch, sind keine Eigenschaften dieser Strukturen und Bewegungen sondern Imaginationen des Gehirns, die uns helfen sollen, eine Situation schnell zu bewerten und daraus die erforderlichen Schlüsse hinsichtlich der Prioritäten des Handelns zu ziehen. Die Sinnesorgane, die uns die Informationen über die Umwelt liefern, sind in aller Regel in oder auf der Außenhaut platziert. Sie registrieren das Auftreffen von Atomen und Molekülen, die sie durch ihre Struktur oder durch die von ihnen ausgehenden Wirkungen unterscheiden. Andere Sinneszellen können von außen kommende Energie, also Bewegungen registrieren, die als Licht, als Schall oder als Druck daherkommen. Die jeweilige Sinneszelle löst daraufhin einen elektrischen Impuls aus, der an das Gehirn weitergeleitet wird. Der elektrisch Impuls selbst ist „neutral“, soll heißen, er trägt keine Angaben über die Art der Information, die ihn auslöste, insich. Die Differenziertheit der Informationen wird dadurch bewahrt, dass die Impulse der einzelnen Sinneszellen jeweils spezielle neuronale Strukturen im Gehirn ansprechen. Jede einzelne Sinneszelle liefert dabei nur einen Impuls, der eine festgelegte Nervenzelle im Gehirn aktiviert. Da dies viele Sinneszellen gleichzeitig tun, kommt die Information in Form einer Impulsstruktur im Gehirn an, wo sie ihre Entsprechung in den von ihnen aktivierten Neuronen findet. Die Struktur aktivierter Neuronen wird mit den neuronalen Strukturen, in denen die Erfahrungen gespeichert sind, nach Übereinstimmungen abgeglichen. Auf die Erfahrung, mit der die meisten Übereinstimmungen festgestellt werden, wird sich die aktuelle Information nun beziehen. Ihre neuronalen Netze verbinden sich, wodurch die der Erfahrung anheftende Bewertung auf die neue Information übergeht. Damit erhält die neue Information einen Sinn. Gleichzeitig wird das der Erfahrung ebenfalls anheftende Verhaltensmuster aktiviert.

Mitunter löst eine Information unmittelbar eine Aktion aus. Dann spricht man von Reflexen. Diese sind bereits in einer frühen Phase der Evolution entstanden und betreffen meist grundlegende Lebensprozesse. Für Cyanobakterien war es schon vor Urzeiten wichtig, das lebensspendende Sonnenlicht zu erkennen. Nur mit seiner Hilfe konnte die Photosynthese gelingen. Trifft dieses Licht auf einen entsprechenden Sensor der äußeren Hülle, so setzt dieser einen Botenstoff frei, der ein vorherbestimmtes Verhalten, hier die Bewegung hin zum Licht, hervorruft. Eine vorherige Bewertung der Information ist nicht vorgesehen und auch nicht notwendig. Auf ähnliche Weise orientieren viele Pflanzen ihr Wachstum zum Licht. Wie das Licht das „Verhalten“ einer Pflanze beeinflusst, zeigt uns die Sonnenblume sehr eindrucksvoll. Sie schaut immer zum großen Lichtspender, obwohl dieser im Laufe des Tages seinen Platz am Firmament ändert. Die Sonnenblume muss dazu keine Entscheidung treffen, dieses Verhalten ist in ihrem Erbgut angelegt.

Eine ähnliche direkte Verknüpfung von Impuls und Verhalten findet man bei Insekten. So ist es unwahrscheinlich, dass ein Käfer das Gelb einer Blüte „sieht“ und sie deshalb in Erwartung süßen Nektars zielgerichtet ansteuert. Er registriert vielmehr Licht eines bestimmten Frequenzbereichs, das sein Verhalten auslöst. Darüber muss er nicht nachdenken, es geschieht eben. Vor diesem Hintergrund wird auch die Funktionsweise der Facettenaugen, die ein Merkmal vieler Insekten sind, verständlich. Diese Augen liefern kein ganzheitliches Bild als Grundlage für eine Entscheidung, sie sammeln vielmehr Informationen über Lichtreflexionen und deren Veränderung, die dann zur Grundlage ihrer Reaktionen respektive Bewegungen werden. Auf diese Weise orten sie auch „gelbe“ Blüten und steuern diese an. Werden plötzliche Veränderungen in der Reflexion des Lichts registriert, so kann dies ein Zeichen für Gefahr sein, weswegen diese Information umgehend ein Fluchtverhalten auslöst. Es ist verdammt schwierig, eine Fliege zu erwischen, denn sie kann selbst hinterhältigen Angriffen zuvorkommen. Zwar „sieht“ sie den Angreifer nicht, sie registriert jedoch die mit seiner Bewegung verbundene Veränderung des Lichts, und dies beinahe im Rundumblick. Diese Information löst augenblicklich ihre Flucht aus.

Mit der Herausbildung von Entscheidungsprozessen auf der Basis gespeicherter Erfahrungen wurde vieles anders. Die direkte Verknüpfung von Impulsen mit einem bestimmten Verhalten wurde zwar nicht völlig aufgegeben, aber ein größer werdender Teil der Informationen muss nun erst verarbeitet und in einen Entscheidungsprozess einbezogen werden, bevor eine Handlung ausgelöst wird. Nicht zu vergessen, dass sich auch die Sinne zu komplexen Organen weiterentwickelten, die teilweise verschiedenartige Sensorzellen vereinen und dadurch eine Vielzahl von Informationen zu unterschiedlichen Aspekten der Wirklichkeit liefern. Die vielfältig entstehenden Einzelinformationen müssen miteinander kombiniert und mit Erfahrungen abgeglichen werden, damit ihnen einen Sinn gegeben werden kann. So werden zum Beispiel die von den Augen registrierten Lichtpunkte derart kombiniert, dass sich Formen bilden, die sich mit Hilfe der Erfahrungen identifizieren lassen. Im nächsten Schritt wird das auf diese Weise entstehende Bild weiterbearbeitet, zum Beispiel indem die Konturen der Objekte schärfer von der Umwelt abgegrenzt werden. Außerdem sind die Abstände zu anderen Objekten zu erfassen, damit die Orientierung im Raum möglich wird.

Mit dem Entscheidungsprozess hatte sich noch etwas anderes verändert. War bislang nur der jeweilige Reiz die Information, so ist für die komplexe Beurteilung einer Situation auch das Nichtvorhandensein eines Reizes von Belang. Folglich müssen beide Möglichkeiten, das Vorhandensein wie auch das Fehlen eines bestimmten Reizes, als Information in die Entscheidungsfindung eingehen. Dazu werden sie durch unterschiedliche Wahrnehmungsmuster voneinander abgegrenzt. Für das Licht heißt das, dass das Vorhandensein des Impulses als „hell“ registriert wird, das Fehlen als „dunkel“. Darüber hinaus kann die unterschiedliche Intensität der Reize durch Abstufungen von hell und dunkel wiedergegeben werden. Die Informationen, die die Zapfen des Auges liefern, sind allerdings in drei Frequenzbereiche aufgeteilt, so dass eine alternative Wiedergabe nach dem Muster „entweder/oder“ nicht möglich ist. Hier verrechnet das Gehirn die Anteile der verschiedenen „Farbinformationen“ zu einem Mittelwert, dem dann ein Farbeindruck zugeordnet wird. Demnach gibt es zwei unterschiedliche Verfahren, wie den Informationen Wahrnehmungsmuster beigegeben werden. Zum einen werden sie mit Hilfe eines Gegensatzes gebildet, zum anderen können sie aus der Verrechnung unterschiedlicher Werte zu einem Mittelwert resultieren. Am Ende entsteht ein komplexes Bild, in dem die einzelnen Aspekte durch die unterschiedlichen Wahrnehmungsmuster unterscheidbar bleiben.

Wahrnehmungsmuster bildeten sich nicht nur für visuelle Reize sondern für alle Sinne aus. Sie sind Bestandteil der Informationsverarbeitung in der Großhirnrinde, die dazu nach Sinnerorganen spezialisierte Areale ausbildete. In ihnen sind auch die mit den einzelnen Sinnen verbundenen Erfahrungen gespeichert. Die Wahrnehmungsmuster selbst könnte man vielleicht als neuronale Schablonen begreifen, in die die aktuellen Informationen, respektive die sie tragenden neuronalen Strukturen, eingefügt werden. Die den einzelnen Sinnen zugeordneten Wahrnehmungsmuster sind dabei deutlich voneinander unterschieden. Sie gehören gewissermaßen unterschiedlichen Sphären an, die wir als Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder Fühlen bezeichnen. Innerhalb dieser Sphären oder Wahrnehmungsmuster sind Möglichkeiten für Differenzierungen gegeben, wodurch Aspekte und Details wie Geschmacks- oder Geruchsnuancen, unterschiedliche Töne und Geräusche oder eben Formen, Farben und Helligkeiten unterschieden werden können. Darüber hinaus ist nicht nur für das Sehen das Nichtvorhandensein eines Reizes von Belang, auch bei anderen Sinnen wird das Fehlen des Reizes mit einem Wahrnehmungsmuster belegt. Treffen keine Schallwellen auf das Ohr, entsteht die Wahrnehmung „Ruhe“, treffen Schallwellen auf, dann bedeutet das „Geräusch“. Dieses Geräusch kann mit Hilfe verschiedener Sinneszellen weiter differenziert werden. Die Frequenz der Schallwellen wird in unterschiedlichen Tonhöhen deutlich, ihre Intensität in verschiedenen Lautstärken. Die Töne wechseln sich mit kurzen Ruhepausen ab. Die konkrete Abfolge von Tönen und Pausen lässt Rhytmen entstehen. Im Abgleich mit Erfahrungen kann unter Umständen eine Melodie identifiziert werden.

Zu den Wahrnehmungen, die aus den Impulsen der Sinnesorgane entstehen, kommen Wahrnehmungen den eigenen Körper betreffend hinzu. Das können Wahrnehmungen wie Durst und Hunger sein, die einen Mangel signalisieren, oder Schmerzen, die eine Verletzung und damit eine Gefährdung der körperlichen Möglichkeiten anzeigen. Eine weitere Gruppe von Wahrnehmungen betrifft die Gefühle. Gefühle drücken Bewertungen aus, die den Erfahrungen anheften. Wird eine aktuelle Information identifiziert, indem sie sich mit einer Erfahrung verbindet, wird das mit ihr verbundene Verhaltensmuster aktiviert und eine körperliche Empfindung, ein Gefühl erzeugt. Durch die Wahrnehmung dieses Gefühls fließt die aus der Erfahrung zugeordnete Bewertung in die Entscheidung ein. Mit der wachsenden Bedeutung der Gemeinschaft für das Leben jedes einzelnen erhielten auch die Informationen, die die Beziehungen in der Gruppe betrafen, ein höherer Stellenwert. Wieder sind es nicht die Informationen selbst, sondern die ihnen auf der Basis von Erfahrungen zugeordneten Gefühle, deren Wahrnehmung in die Entscheidungsfindung einfließt.

Mit den sozialen Beziehungen gewinnt noch ein weiterer Faktor Einfluss auf die Entscheidungen, das Kalkül. Das Kalkül zielt nicht in erster Linie auf die Lösung einer für das Wohl der Gemeinschaft wichtigen Aufgabe, sondern auf die Herstellung von Bedingungen, die zum eigenen Vorteil gereichen. Dafür braucht man eine Vorstellung davon, worin der eigene Vorteil liegt und wie man ihn erlangen kann. Der erdachte Vorteil muss wiederum mit Gefühlen verknüpft sein, damit der Ränkeschmied voller Motivation ans Werk geht. Aber, woher erhält ein Plan, also etwas, das noch nicht stattgefunden hat, eine Bewertung in Form eines Gefühls? Eine solche Bewertung kann aus Erfahrungen entstehen, die der Planer in einer ähnlichen Situation bereits gesammelt hatte. Vielleicht war er schon einmal der engste Vertraute des Leithammels und will es wieder werden. Bewertungen können aber auch aus Beobachtungen resultieren. Man sieht doch, wie andere ihre Vorteile auskosten, indem sie die ersten an den Futtertrögen oder bei der Verbreitung des eigenen Samens sind.

Es sind also nicht nur viele sondern auch sehr verschiedene Wahrnehmungen respektive Gefühle, die in eine Entscheidung einfließen. Sie müssen zueinander in Beziehung gesetzt werden, damit eine ganzheitliche Bewertung der Situation entstehen kann. Die dafür erforderliche Gesamtschau vollzieht sich in einem speziellen Areal der Großhirnrinde. Dort werden vermutlich nicht die Informationen mit ihrem gesamten Detailreichtum zusammengeführt, sondern es werden die Ergebnisse der ersten Verarbeitungsstufe, das heißt die Bewertungen, die den verschiedenen Informationen in Form von Gefühlen beigegeben wurden, zueinander in Beziehung gesetzt. Nur, wie kann das Gehirn die Gefühle gegeneinander abwägen und daraus eine Entscheidung ableiten? Eine Möglichkeit besteht darin, den Quellen, aus denen die Informationen stammen, einen unterschiedlichen Stellenwert zuzuordnen. Bei den Primaten ist die Gesamtschau in starkem Maße durch visuelle Quellen geprägt, bei Hunden ist daneben der Geruchssinn von besonderer Bedeutung, Katzen wiederum verlassen sich eher auf das Gehör. Maulwürfe sehen schlecht, ihre Entscheidungen werden durch den Tastsinn und den Geruchssinn geleitet. Auf diese Weise entsteht eine artenspezifische Rangfolge der Informationsquellen, die sich in der Ausprägung der entsprechenden Sinnesorgane widerspiegelt. Die Intensität eines Reizes könnte ein weiteres Bewertungskriterium sein. Ein starker Geruch zeigt die Nähe des wahrgenommenen Objekts an. Wird der Geruch nach einem Abgleich mit Erfahrungen allerdings als harmlos eingestuft, bleibt er für die anstehende Entscheidung bedeutungslos. Ist er einem gefährlichen Räuber zuzuordnen, dann ist höchste Wachsamkeit geboten, selbst wenn der Feind noch nicht gesichtet ward.

Die beiden genannten Kriterien erklären aber noch nicht, wie verschiedene Reize eines Sinnesorgans oder gleichstarke Reize verschiedener Sinne gegeneinander abgewogen werden. Um uns dieser Frage zu nähern, müssen wir uns noch einmal anschauen, wie Gefühle entstehen. Gefühle werden durch Botenstoffe hervorgerufen, die bestimmte Bereiche im Gehirn oder Nervengeflechte im Körper anregen, deren Aktivität als Gefühl wahrgenommen wird. Die Freisetzung der Botenstoffe wird durch Informationen beziehungsweisen von Reizen, die von Sinneszellen ausgehen, ausgelöst. Welche Information beziehungsweise welche Sinneszelle welchen Botenstoff freisetzt, ist im Erbgut verankert. Diese Zuordnung, die auch eine Bewertung beinhaltet, hat sich im Laufe der Evolution herausgebildet. Mit ihr entstand offensichtlich ein Ranking der Botenstoffe und Gefühle, das die Bedeutung der ihnen zugrundeliegenden Informationen für das Überleben der Art widerspiegelt. Je höher das Ranking eines Botenstoffs ist, umso stärker fließt das von ihm hervorgerufene Gefühl in die Entscheidung ein, wobei die Intensität seiner Ausschüttung verstärkend oder dämpfend wirken kann. Dieses insgesamt bewährte System hat allerdings einen Nachteil, denn auch Stoffe oder Verhaltensweisen, die dem Leben eher schaden, können großen Einfluss auf Entscheidungen nehmen, wenn sie mit der Ausschüttung von Botenstoffen verbunden sind, die starke angenehme Gefühle bescheren. Zerstörerische Süchte sind mitunter die Folge.

Bei all unseren Überlegungen zu Informationen und Entscheidungen kam der Begriff „Bewusstsein“ nicht vor. Wir brauchten ihn nicht. Die Vorgänge, die mit dem Wort „bewusst“ beschrieben werden, betreffen häufig Prozesse der Informationsverarbeitung, die dem Ziel dienen, die Prioritäten des Handelns zu bestimmen. Dazu müssen die Informationen zueinander in Beziehung gesetzt und mit Erfahrungen abgeglichen werden. Diese Fähigkeit ist, wie wir sahen, in einem langen evolutionären Prozess entstanden und weiterentwickelt worden. Die Besonderheit, die der Mensch diesem Prozess hinzufügte, ist mit der Sprache verbunden, durch die er in die Lage kam, selbst Informationen und damit Gefühle zu erzeugen. Geht die Fähigkeit zur Verarbeitung von Informationen, zum Beispiel in Folge einer schweren Verletzung des Gehirns, verloren, dann setzt ein bewusstloser oder besinnungsloser Zustand ein. Die primären Lebensfunktionen bleiben jedoch erhalten, da sie von den Teilen des Gehirns gesteuert werden, die automatisch, das heißt nach ererbten Mustern und ohne die Notwendigkeit individueller Entscheidungen, funktionieren. Für die Abgrenzung eines bewussten von einem bewusstlosen Zustand ist der Begriff „Bewusstsein“ also sinnvoll, für die Beschreibung der informationsverarbeitenden Prozesse eher weniger.

zuletzt geändert: 16.09.2019

Bild: online-mit-tieren.com

 

Gefühle – was soll das?

tierische Gefühle

Eines der großen Mysterien des Lebens sind die Gefühle. Dem einen bescheren sie eine Hochstimmung, dem anderen quälende Pein. Sie stimulieren oder depremieren, sie belohnen und bestrafen. Und warum das alles?

Letzten Endes geht es darum, das eigene Leben und das Überleben der Art zu sichern. In diesem Zusammenhang erwies es sich als Vorteil, möglichst viele Informationen über die Umwelt zu sammeln und auszuwerten, um das Verhalten auf die konkrete Situation einstellen zu können. Informationen werden in Sensorzellen gewonnen. Die Sensorzelle leitet die Information in Form eines elektrischen Impulses an das Gehirn, wo ein  neuronales Netz angeregt wird. Dieses neuronale Netz löst ein bestimmtes Verhalten aus, indem es die dafür erforderlichen Zellen beziehungsweise Organe aktiviert. Eine solche direkte Verknüpfung einzelner Informationen mit genetisch vorgegebenen Reaktionen war für die ersten Tiere typisch. Sie hat sich bis in unsere Tage für einfache Arten, bis hin zu Krebsen und Insekten, bewährt. Im Laufe der Evolution entstanden jedoch auch Arten, die mit vielfältigen Fähigkeiten ausgestattet waren, so dass sie flexibel auf unterschiedliche äußere Bedingungen reagieren konnten. Dafür musste jedoch die durchgängige Verknüpfung von Informationen mit vorherbestimmten Verhaltensmustern aufgegeben werden.

Für die flexible Reaktion auf unterschiedliche und sich verändernde Bedingungen waren vielfältige Informationen erforderlich, für deren Gewinnung komplexe Sinnesorgane entstanden. Die von ihnen gelieferten Informationen konnten durchaus widersprüchliche Anforderungen an das Verhalten stellen. Da hatte zum Beispiel ein Saurier gerade einen genialen Platz mit frischem Blattwerk für ein opulentes Mahl gefunden, als ihm seine Sinne Informationen lieferten, die auf das Nahen eines räuberischen Zeitgenossen schließen ließen. Sollte er nun weiterfressen oder besser davonlaufen? Mit der Erfahrung, die ihm geholfen hatte, den Räuber zu identifizieren, war auch dessen Einstufung als Gefahr verbunden. Diese Bewertung wurde für ihn als Gefühl, wahrscheinlich als Furcht, erlebbar. Es trieb unseren Saurier in die Flucht, egal wie verlockend das Grünzeug gewesen sein mag. War die Gefahr vorüber, würden wieder andere Gefühle, zum Beispiel aus Hunger oder Durst resultierend, sein Handeln bestimmen, denn auch Nahrungs- und Wassermangel  konnten lebensbedrohlich sein.

Nicht nur Mangelzustände und Gefahren bestimmen das Leben, genauso wichtig ist es, mit der mühsam erlangten Energie hauszuhalten und dem Körper Phasen der Regeneration zu gewähren. Ist der Löwe satt, wird er schläfrig. Das heißt, der volle Magen signalisiert dem Gehirn, dass nach Jagen und Fressen nun eine Pause angezeigt ist. Das Gehirn veranlasst die Ausschüttung entsprechender Botenstoffe und der Löwe legt sich genüsslich in die Sonne. Die Ruhe hat er sich verdient. Im Rudel gibt es jedoch ein paarungsbereites Weibchen, das, statt ihm die Ruhe zu gönnen, um ihn herumschleicht und ihn zu verführen sucht. Welches Gefühl wird siegen – sein Ruhebedürfnis oder die Pflicht, für Nachwuchs zu sorgen? Wahrscheinlich weiß er, was er zu tun hat. Allerdings wird er nicht aus lauter Pflichtgefühl das Seine beisteuern, vielmehr werden die Informationen, die ihm seine Nase über die Löwin vermitteln, ihn geil machen. Dieses Gefühl setzt sich gegen das Ruhebedürfnis durch und der Löwe schreitet zur Tat. Wahrscheinlich wird er für sein Engagement zur Bewahrung der Art mit positiven Gefühlen belohnt. Die in diesem Zusammenhang ausgeschütteten Botenstoffe lassen ihn auch wieder zur Ruhe kommen. Vielleicht kann er ja doch noch ein Schläfchen halten. Zuckerbrot und Peitsche, positive und negative Gefühle treiben ihn an, steuern sein Verhalten. Es sind Gefühle, die Behagen oder Unbehagen auslösen, die angenehm oder unangenehm sind, die er vermeiden will oder von denen er nicht genug bekommen kann. Stimulierend oder bremsend, mehr Gefühl braucht es nicht.

Was sind dann aber Durst, Hunger oder Müdigkeit? Es sind Signale des Körpers, mit denen dieser auf seinen Zustand oder seine Bedürfnisse aufmerksam macht. Es sind Informationen, denen eine Bewertung beigegeben ist, welche als angenehmes oder unangenehmes Gefühl auftritt. Je stärker dieses Gefühl ist, desto heftiger drängt die ihm zugrundeliegende Information in den Vordergrund. Das Unbehagen wegen eines bisschen Hungers wird nicht unbedingt die Handlung prägen, die Pein großen Hungers schon. Sie kann im konkreten Moment jegliches andere Gefühl überlagern. Ähnliches gilt für Schmerzen. Grundlage für den Schmerz sind Informationen von Nervenzellen, die Verletzungen an inneren Organen oder an der Außenhaut signalisieren. Diese Informationen lösen, je nach Art der signalisierten Verletzung, genetisch verankerte körperliche Reaktionen aus. Wahrscheinlich wird das Immunsystem aktiviert und an der verletzten Stelle wird Energie freigesetzt, die die Körpertemperatur erhöht, um Krankheitserreger abzutöten und die Bildung neuer Zellen zu erleichtern. Außerdem löst das Gehirn einen Schmerz aus, der es ermöglicht, die Verletzung zu lokalisieren und ihre Schwere zu erfahren. Das Tier kann nun die Wunde lecken und durch die im Speichel vorhandenen antiseptischen und blutstillenden Stoffe die Heilungschancen verbessern. Außerdem könnte es im Unterholz Schutz suchen. Da Schmerz in hohem Maße unangenehm ist, erzwingt er förmlich eine entsprechende Reaktion.

Selbst dann, wenn ein dominierendes Gefühl ein bestimmtes Verhalten mehr oder weniger erzwingt, sind immer auch andere Gefühle im Spiel, die von anderen Informationen ausgelöst wurden. Ist keines der Gefühle von vornherein dominant, müssen die verschiedenen Gefühle gegeneinander abgewogen werden, um zu einer Entscheidung über die Prioritäten des Handelns zu gelangen. Mit der Entwicklung der Sinnesorgane wurden jedoch immer mehr Informationen zur Verfügung gestellt, so dass eine Überflutung mit Gefühlen drohte, die notwendige Entscheidungen eher verhindern als befördern würde. Die Informationsflut musste irgendwie eingedämmt und kanalisiert werden. Mit anderen Worten, das Großhirn brauchte eine Einlasskontrolle, die alle nicht identifizierbaren, fehlerhaften und minderwertigen Informationen aussonderte und die die Informationen, die lediglich der Steuerung der Bewegungen dienten, direkt ans Kleinhirn verwies. Letzteres gilt vor allem für visuelle Informationen, die im Kleinhirn verarbeitet werden, ohne dass weitergehende Entscheidungen notwendig sind. Nur Informationen, die für die Optimierung des Verhaltens tatsächlich gebraucht werden, sollten Einlass ins Großhirn finden.

In der Einlasskontrolle wird nicht nur der Informationsmüll ausgesondert, es werden auch die Informationen, die passieren dürfen, mit Hilfe von Erfahrungen bewertet. Diese Bewertung geht mit einem Gefühl in die Entscheidungsfindung ein. Es kann allerdings sein, dass einzelne Informationen, zum Beispiel bestimmte Geruchspartikel, Alarm und damit eine sofortige Flucht auslösen. Diese aus der direkten Verknüpfung eines Reizes mit einem bestimmten Verhalten resultierende reflexartige Reaktion betrifft meist Gefahren, die keinen zeitraubenden Entscheidungsprozess erlauben. Gibt es keine derartige spontane Reaktion, müssen in einem nächsten Schritt alle von einem Sinnesorgan gelieferten Details zusammengeführt und in ihrer Gesamtheit beurteilt werden. Wenn, zum Beispiel, eine Vielzahl von Geruchspartikeln erkannt werden, dann entsteht ein Geruchsbild, das als Ganzes zusätzliche Informationen liefern kann. Mögen einzelne Geruchspartikel ausreichen, um eine Gefahr zu erkennen, so kann deren Gesamtheit anzeigen, ob es sich bei der möglichen Beute um ein junges oder älteres, ein gesundes oder verletztes, ein in der Nähe befindliches oder ein sich entfernendes Tier handelt. Um dieses Potenzial ausschöpfen zu können, müssen Erfahrungen in den Abgleich der Informationen einbezogen werden. Diese komplexe Verarbeitung der Informationen erfolgt in der Großhirnrinde, wo sich für die einzelnen Sinne spezielle Areale herausbildeten. Führt sie zu einer von der ersten Bewertung abweichenden Berurteilung, werden Botenstoffe auf den Weg gebracht, die die bereits hervorgerufenen Gefühle dämpfen oder verstärken.

Mit der Verbesserung des Gedächtnisses war auch verbunden, dass Handlungen beziehungsweise deren Erfolg im Nachhinein bewertet werden können. Stellt sich in der Reflexion der Ereignisse heraus, dass die Situation falsch eingeschätzt wurde, dann könnte das an den hinzugezogenen Erfahrungen liegen. Vielleicht wurden die falschen Erfahrungen zu Rate gezogen oder sie spiegelten die Komplexität der Situation nicht ausreichend wider. In jedem Fall müssen sie in Frage gestellt und gegebenenfalls modifiziert werden. Das Gedächtnis ist also nichts statisches, vielmehr werden gespeicherte Erfahrungen immer wieder überprüft und verändert. Erfahrungen, die nicht benötigt werden, verblassen, solche, die sich immer wieder als wichtig bestätigen, bleiben mit hohem Stellenwert im Gedächtnis präsent.

Je öfter eine Erfahrung erfolgreich zum Einsatz kommt, umso stabiler prägt sie sich aus. Dies gilt in besonderem Maße für die Steuerung von Bewegungen. Wird eine Bewegung immer und immer wiederholt, führt das nicht nur zu ihrer Optimierung, sondern auch zum bevorzugten, quasi automatisierten Abruf der optimierten Bewegungsvariante. Der Stellenwert einer Erfahrung kann auch durch das Gefühl, mit dem sie verknüpft ist, bestimmt werden. Die Bewertung durch ein Gefühl ist für die im Großhirn gespeicherten, das Verhalten prägenden Erfahrungen charakteristisch. Je stärker das markierende Gefühl war, desto länger und intensiver bestimmt diese Erfahrung die zukünftigen Handlungen. Das kann soweit gehen, dass selbst dann, wenn die zu beurteilende Situation nur bedingt mit der Erfahrung vergleichbar ist, sie trotzdem das Handeln beeinflusst. Im Extremfall wird eine prägende Erfahrung das gesamte Verhalten des Lebewesens bestimmen und dadurch abnorm werden lassen.

Erfahrungen spielten im Verlauf der Evolution eine immer größer werdende Rolle. Offensichtlich erwiesen sie sich als Vorteil im Überlebenskampf. Die in Gemeinschaften lebenden Tiere konnten diesen Vorteil steigern, indem sie möglichst viele der in der Gruppe gesammelten Erfahrungen an andere, wie auch an Nachkommen, weitergaben. Erfahrungen zu Bewegungsabläufen kann man zum Beispiel durch das Vormachen und das spielerische oder gezielte Nachahmen vermitteln. Erfahrungen, die zur Bewertung einer Situation oder eines Verhaltens geeignet sind, kann man mit Hilfe von Lauten, Gesten und andere körperliche Ausdrucksmitteln weitergeben. Wichtig ist, dass auch die Gefühle, die sich mit den Erlebnissen verbanden, für den anderen nachvollziehbar werden. Nur durch die Verknüpfung mit Gefühlen können sich bewertende Erfahrungen im Gedächtnis verankern.

zuletzt geändert: 28.09.2019

vgl. auch: Entdeckungsreise durch das Gehirn, Gehirn & Geist spezial, Nr. 1/ 2011

1) ebenda, Seite 34

GEO kompakt Nr. 28, Intelligenz, Begabung, Kreativität

Bild: freshideen.com

Immer muss man sich entscheiden

Man muss sich entscheiden, welchen Weg man gehen soll, um ans Ziel zu gelangen, wie man sich verhalten soll, um erfolgreich zu sein, was man tun soll, um jemanden für sich zu gewinnen. Oft geht es darum, das eigene Verhalten zu optimieren, manchmal auch darum, die richtige Alternative zu wählen. So oder so, Entscheidungen betreffen immer die Auswahl einer von mehreren möglichen Varianten des Handelns. Ziel muss es sein, die Variante auszuwählen, die den größten Erfolg verspricht beziehungsweise die die höchste Dringlichkeit besitzt. Der Maßstab, an dem sich Erfolg oder Dringlichkeit messen, ist in letzter Konsequenz die Erhaltung des Lebens, des eigenen oder das der Art.

Die Erhaltung des Lebens erfordert den Schutz vor Gefahren genauso wie die Beschaffung von Stoffen und Energie für seine permanente Erneuerung. „Fressen oder Gefressenwerden“ war die Herausforderung, die das Leben von Anbeginn an begleitete. Bereits die Einzeller mussten Vorsorge treffen, um auftauchenden Gefahren zu begegnen. Sie entwickelten Abwehr- und Fluchtvarianten, die bei einem bestimmten äußeren Reiz, zum Beispiel einer Berührung, automatisch ablaufen. Eine Entscheidung ist nicht erforderlich. Pflanzen sind meist diejenigen, die gefressen werden. Sie können vor ihren Feinden nicht davonlaufen, sie können sich nur zur Wehr setzen, indem sie sich Stacheln zulegen, Gifte bilden oder den Tieren auf andere Weise den Verzehr verleiden. Diese Strategien zur Verteidigung sind im Bauplan der Pflanze verankert, individuelle Entscheidungen sind auch hier nicht vorgesehen. Viele Tiere bis hin zu Krebsen und Insekten haben ebenfalls Strategien des Überlebens entwickelt, die automatisch aufgerufen werden, sobald ein bestimmter Reiz registriert wird. Da sticht die Wespe schon mal, auch wenn man ihr gar nichts Böses will. Sie tut das nicht mit Absicht, es passiert eben. Es hat auch nichts mit der gestochenen Person zu tun, die ist ihr egal. Die gestochene Person hat lediglich etwas getan, was dieses Abwehrverhalten auslöste.

Vieles wurde anders als das Gedächtnis entstand. Mit seiner Entwicklung ging auch eine Veränderung des Gehirns einher. Zum „angestammten“ Teil, der die Körperfunktionen reguliert und automatische Reaktionen auf bestimmte äußere Reize auslöst, kamen weitere Teile hinzu. In dem einen, dem Kleinhirn, sind die ererbten respektive erworbenen Bewegungsmuster konzentriert. Dieser Teil des Gehirns verarbeitet die Informationen zur Ausrichtung des Körpers im Raum wie auch visuelle und andere Reize, mit denen die Gegebenheiten des direkten Umfelds erfasst werden. Auf dieser Basis koordiniert und steuert es die Bewegungen. In dem anderen Teil, dem Großhirn, sind die ererbten und erworbenen Verhaltensmuster versammelt. Dort werden sowohl die Bedürfnisse des Körpers erfasst als auch die Informationen der Sinnesorgane verarbeitet. Die Informationen werden mit Erfahrungen abgeglichen, um in Abwägung von Gefahren und Bedürfnissen die Prioritäten des Handelns zu bestimmen.

Jede Situation ist durch eine Vielzahl, teilweise sehr spezieller Details charakterisiert. Würde sich der Abgleich von Informationen mit Erfahrungen auf der Basis der Identität aller dieser Merkmale vollziehen, wären kaum Treffer zu landen. Um Erfahrungen, also vorangegangene Erlebisse, für eine Entscheidung nutzen zu können, ist es erforderlich, sie auf wesentliche Faktoren und Abläufe zu reduzieren, anhand derer sie den aktuellen Ereignissen zuordenbar sind. Mit der Reduzierung der Erfahrungen auf Wesentliches entsteht darüber hinaus die Möglichkeit, mehrere ähnliche Ereignisse zu einer Erfahrung zusammenzufassen. Erfahrungen beinhalten aber nicht nur Faktoren und Abläufe eines Geschehens, sondern auch die Bewertung des mit ihm verbundenen Erfolgs oder Misserfolgs. War die eingeleitete Aktion erfolgreich, dann geht dies aufwertend in die Erfahrung ein, endete sie in einem Desaster, dann ist die vorangegangene Entscheidung, einschließlich der ihr zugrundeliegenden Einschätzung der Situation, in Zweifel zu ziehen.

Die Nutzung von Erfahrungen wurde zum prägenden Merkmal der Wirbeltiere. Als ihre ersten Vertreter gelten urzeitliche Kreaturen, die den heutigen Neunaugen ähnelten. Aus ihnen gingen die Fische hervor. Für Fische ist die dominierende Rolle des Kleinhirns charakteristisch. Offensichtlich hat für sie die Anpassung von Bewegungsabläufen an die konkreten Umweltbedingungen einen deutlich höheren Stellenwert als die Verwaltung von alternativen Verhaltensmustern. Das änderte sich mit dem Landgang der Tiere, denn nun wurden die Gegebenheiten, denen die Tiere sich in ihrem Verhalten anpassen mussten, ungleich vielfältiger. Zur Erlangung der dafür erforderlichen Informationen bildeten sich komplexe Sinne aus. Wahrscheinlich war es der Geruchssinn, der sich zuerst in dieser Weise entwickelte, das legt zumindest das Gehirn der Amphibien nahe. Mit dem Geruchssinn werden Partikel, die durch die Luft herangeweht werden, registriert. Der große Vorteil dieser Wahrnehmung besteht darin, dass sie auf Nahrung oder auf Gefahren hinweist, die sich noch in Distanz zum eigenen Körper befinden. Damit öffnen sie ein Zeitfenster, das die Prüfung der Informationen und eine abwägende Entscheidung zum weiteren Verhalten ermöglicht.

Die Nutzung der mit den herangewehten Partikeln verbundenen Informationen erfordert, dass diese eingefangen und identifiziert werden. Einzeller hatten bereits Sensoren hervorgebracht, die auf Stoffe, die das Wasser heranspült, reagieren. Diese Fähigkeit konnte genutzt werden, um auch Partikel, die durch die Luft wehen, zu identifizieren. Die dazu erforderlichen Sinneszellen wurden zweckmäßigerweise in den Organen zur Luftaufnahme platziert. Dass sie dort in ein feuchtes Umfeld eingebettet sind, ist wohl auf ihre Erfinder zurückzuführen. Wird nun von einer solchen Sinneszelle ein Molekül erfasst, auf dessen Struktur sie spezialisiert ist, dann generiert sie einen elektrischen Impuls, der an das Gehirn geleitet wird. Dort aktiviert der Impuls ein festgelegtes Verhaltensmuster. Sind die Geruchspartikel einem gefährlichen Räuber zugeordnet, wird die sofortige Flucht die Rettung sein. Das Leben besteht aber nicht nur aus Gefahren. Taucht ein paarungsbereites Weibchen in Riechweite eines potenziellen Samenspenders auf, dann werden die identifizierten Geruchspartikel keine überstürzte Flucht auslösen, eher wird unser Romeo aufdringlich werden.

Die Fähigkeit, kleinste Partikel in der Luft zu erkennen, bietet jedoch weitaus mehr Informationspotenzial als das, was mit den wenigen grundlegenden Gerüchen, die sofort ein bestimmtes Verhalten auslösen, ausgeschöpft wird. Die Stoffe können nämlich in ganz unterschiedlichen Kombinationen auftreten und auf diese Weise „Geruchsbilder“ formen. Diese Geruchsbilder sind so vielfältig, dass es nicht möglich war, jedem von ihnen ein Verhaltensmuster zuzuordnen. Die in ihnen steckenden Informationen mussten auf anderem Wege gewonnen werden. In gewisser Weise hatten die Fische bereits eine Lösung des Problems gefunden. Fische gleichen Informationen aus der unmittelbaren Umgebung mit gespeicherten Erfahrungen ab, um ihre Bewegungen zu optimieren. Dieser Prozess vollzieht sich im Kleinhirn. In einem ähnlichen Prozess mussten nun im Großhirn Erfahrungen zu bereits bekannten Geruchsbildern mit den eingehenden Informationen abgeglichen werden, um diese zu identifizieren und das Verhalten darauf einzustellen.

Im Laufe der Zeit bildeten sich weitere komplexe Sinne aus. Große Bedeutung erlangte das Gehör, mit dem Luftbewegungen wahrgenommen werden. Luftiiritationen können zum Beispiel durch Bewegungen anderer Lebewesen hervorgerufen werden. Kann man sie wahrnehmen und deuten, können sie unter Umständen Informationen über einen Räuber oder über eine potenzielle Beute liefern, die bis dahin weder zu sehen noch zu riechen war. Dazu müssen die Bewegungen der Luft aber nicht nur registriert und lokalisiert, sondern auch mit Hilfe von Erfahrungen identifiziert werden. Die Erfahrungen muss jeder selbst sammeln, sie werden nicht vererbt. Eine Verankerung im Erbgut kam schon deshalb nicht in Frage, weil die Lebensumstände, für die die Erfahrungen benötigt werden, sehr unterschiedlich sein können und sich zudem ständig verändern. Es zeigte sich jedoch, dass das Erkennen von Geräuschen schon für Neugeborene überlebenswichtig sein kann, weshalb der erforderliche Lernprozess so früh wie möglich, das heißt bereits im Mutterleib, einsetzten muss.

Eine andere wichtige Informationsquelle sind die Augen. Das Sehen war bereits in einer frühen Phase der Evolution zur Orientierung in der direkten Umgebung und zur Steuerung der Bewegungen entstanden. Die Herausbildung des räumlichen Sehens eröffnete jedoch in mehrfacher Hinsicht neue Perspektiven. In Kombination mit dem sich entwickelnden Gedächtnis wurde es nun möglich, größere Gebiete für eine gezielte Nahrungssuche zu erschließen. Auch Gefahren wurden besser erkannt, so dass man ihnen auf neue Weise begegnen konnte. Die Kehrseite dieser Entwicklung war die mit dem räumlichen Sehen verbundene Informationsflut, die irgendwie bewältigt werden musste. In diesem Zusammenhang stellte sich heraus, dass die Verarbeitung komplexer visueller Informationen relativ viel Zeit erfordert, Zeit, die für die Steuerung von Bewegungen, für die die visuellen Informationen ebenfalls benötigt werden, nur begrenzt zur Verfügung steht. Das Kleinhirn des Menschen braucht beispielsweise eine fünftel Sekunde für die Auswertung der visuellen Informationen, während sich das Großhirn für deren komplexe Bewertung eine halbe Sekunde Zeit lässt.1) Wollte man dem damit verbundenen Dilemma entgehen, mussten die visuellen Informationen unabhängig voneinander in beiden Teilen, das heißt sowohl im Kleinhirn als auch im Großhirn, ausgewertet werden. Die damit verbundene zeitliche Spreizung hat unter anderem zur Folge, dass das Großhirn zwar den Dirigenten geben kann, das Musizieren aber dem Kleinhirn obliegt.

Das Großhirn wird nicht nur von den Sinnesorganen mit Informationen bombardiert, auch der Körper meldet seine Bedürfnisse an, denn letztlich ist deren Befriedigung der Sinn allen Tuns. Beide, die Bedürfnisse des Körpers und die Informationen aus der Umwelt, müssen irgendwie zusammengebracht und nach Prioritäten geordnet werden, damit ein sinnvolles Verhalten möglich wird. Um Prioritäten bestimmen zu können, müssen die eingehenden Informationen irgendwie bewertet werden. Diese Bewertung könnte anhand der Quellen erfolgen, von denen die Informationen stammen. Der aus dem Körper kommenden Nachricht „Nahrung fehlt“ wird sicher ein hoher Stellenwert zugeordnet sein, falls jedoch äußere Sensoren eine akute Gefahr signalisieren, dann wird „Flucht“ und nicht „Fressen“ zur Losung der Stunde. Auch die Platzierung der Sinneszellen kommt als Differenzierungsmerkmal in Betracht. Den Sensoren am Kopf könnte eine höhere Priorität als ähnlichen am Hinterteil gegeben werden. Dann ist da noch die Intensität eines Reizes, die womöglich auf die unmittelbare Nähe einer Gefahr oder einer Beute hinweist. Nicht zu vergessen, dass die Erfahrungen jeder Bewertung eine individuelle Note verleihen.

An dieser Stelle fällt mir ein Erlebnis ein, das schon einige Jahre zurückliegt. Es war in Bulgarien, wo es zu jener Zeit viele frei laufende Hunde gab, bei denen man nicht so recht wusste, ob sie jemanden zugehörten oder ob es streunende Hunde waren. Ich drehte eine kleine Joggingrunde, als plötzlich so ein Hund vor mir stand. Wir waren wohl beide erschrocken, der Hund fasste sich allerdings schneller als ich. Er fletschte die Zähne und knurrte mich böse an. Offensichtlich hatte er gelernt, dass Menschen eher Feinde sind. Tatsächlich wurden freilaufende Hunde zu dieser Zeit nicht gerade gut behandelt, sie mussten sich schon mal vor Schlägen und Fußtritten in Sicherheit bringen. Die Augen des Hundes hatten also Informationen an das Gehirn übermittelt, die auf einen Menschen schließen ließen. Seine Erfahrungen signalisierten ihm Gefahr. Das Gehirn setzte den Körper des Hundes in Alarmbereitschaft. Seine Alternativen waren Angriff oder Flucht. Dieser Hund entschied sich für den Angriff beziehungsweise für die Androhung eines solchen. Dass er sich für diese Alternative entschied, hatte wahrscheinlich den Grund, dass es ein Hund war, der eher zur Aggressivität neigte, denn auch bei Hunden gibt es einige, die den Kampf und andere, die in einer vergleichbaren Situation die Flucht bevorzugen. Eine Ursache für diese Unterschiede mag in den früher gesammelten Erfahrungen liegen, daneben spielt aber auch die genetische Disposition des Tieres eine Rolle. Der Körper des einen Tieres setzt halt mehr Botenstoffe frei, die ein aggressives Verhalten heraufbeschwören, als der eines anderen. Sie sind eben von unterschiedlichem Temperament.

Der Hund hatte sicher an meiner Körpersprache erkannt, dass ich erschrocken war. Er hatte gewiss auch gerochen, dass mich Angst beschlichen hatte. Beides mag seine Entscheidung zu einer Angriffsdrohung beeinflusst haben. Mein Instinkt riet mir zur Flucht. Mein Wissen über Hunde sagte mir, dass ein Fluchtversuch den Hund wohl eher ermuntern würde, tatsächlich zuzubeißen. Also entschloss ich mich, einen Gegenangriff vorzutäuschen. Ich habe den Hund laut beschimpft und bin einen Schritt auf ihn zugegangen. Das war ihm nicht geheuer. Er zog knurrend von dannen, jedenfalls ein paar Schritte, denn noch war sein Körper im Angriffsmodus. Kaum hatte ich mich umgedreht, um meinen Lauf fortzusetzen, war er wieder zähnefletschend hinter mir. Das Spielchen haben wir mehrmals wiederholt, wobei meine vorgetäuschten Angriffe immer mutiger wurden. Irgendwann entkam ich seiner Aufmerksamkeit. Das Erlebnis zeigt, dass der Hund die sich verändernde Situation immer wieder neu bewertete und sein Verhalten entsprechend anpasste. Es bleibt die Frage, warum mir diese Episode nach so vielen Jahren noch immer in lebhafter Erinnerung ist. Es war halt mein erstes Zusammentreffen mit einem streunenden Hund, und ich hatte mehr Schiss, als mir lieb war. Das erste derartige Erlebnis und das starke Gefühl haben diese Episode tief in meinem Gedächtnis verankert. Da sich eine ähnliche Situation bis heute nicht wiederholt hat, wurde sie auch nicht durch andere Erfahrungen relativiert. Gefühle spielen bei der Bewertung von Situationen also offensichtlich eine Rolle. Nur was, um Himmels Willen, sind Gefühle?

zuletzt geändert: 10.09.2019

vgl. Entdeckungsreise durch das Gehirn, Gehirn&Geist spezial, Nr. 1/2011

Bild: topyourjob.wordpress.com

Ohne Boten geht gar nichts

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Leben ist ohne Informationen undenkbar. Informationen in Form des genetischen Bauplans werden benötigt, damit ein Lebewesen überhaupt entstehen kann. Ist es dann entstanden, soll es wachsen und sich vermehren. Dafür braucht es Energie und allerlei Stoffe, die es aus dem Wasser oder dem Boden, aus der Luft oder aus anderen Lebewesen ziehen muss. Um an diese Ressourcen zu gelangen, muss es wissen, wo sie zu finden sind und wie man dorthin gelangt. Dafür sind Informationen erforderlich, die mit Hilfe von Sensoren, welche vor allem in und auf der äußeren Hülle platziert sind, gewonnen werden. Von dort werden sie durch den Körper transportiert, um zu den Teilen zu gelangen, die in Aktion treten sollen. Für den Transport ist ein Medium erforderlich, in dem die Informationen gespeichert sind.

Was hat das mit einem Boten zu tun? In früheren Zeiten waren Boten dazu bestimmt, Kunde über gewesene oder erwartete Ereignisse zu übermitteln. Zu diesem Zweck transportierten sie Briefe oder andere Dokumente, die sie einem vorherbestimmten Empfänger überbrachten, damit dieser entsprechend tätig würde. Die Informationen, die ein Lebewesen benötigt, müssen ebenfalls von einem Absender, meist einer Sensorzelle, zu einem vorherbestimmten Empfänger, das heißt, einem Organ oder anderen Körperteil, transportiert werden. Auch dafür braucht man Boten. Zugegeben, deren Fortbewegungsmittel sind andere als die der reitenden Boten früherer Zeiten, im Körper eines Lebewesens werden auch keine Briefe oder Dokumente transportiert. Trotzdem muss die Information für den Transport irgendwo gespeichert sein.

Bereits bei der Entstehung des Lebens spielten Boten eine Rolle. Es hatte sich gezeigt, dass vermehrungsfähige Moleküle in einer aggressiven Umwelt nur überdauern können, wenn sie eine schützende Hülle besitzen. Das hatte zur Folge, dass im Zuge der Vermehrung auch diese Hülle vervielfacht werden musste. Die dafür erforderlichen Stoffe waren jedoch teilweise derart komplex, dass ihre Synthese mehrere Schritte erforderlich machte. Für die Steuerung dieses Prozesses boten sich Eiweiße mit einem spezifischen katalytischen Potenzial an. Damit die Zelle diese Helfer, wir nennen sie Enzyme, bilden konnte, musste deren Bauplan, genauso wie die zeitliche Abfolge ihrer Bereitstellung, im vermehrungsfähigen Molekül, der RNA, gespeichert sein. Man kann diese Enzyme daher sowohl als Werkzeuge der RNA wie auch als deren Boten begreifen, denn ihr Aufbau und der Zeitpunkt ihrer Aktivierung enthält Informationen zu Teilprozessen der Vermehrung.

Die Enzyme blieben nicht die einzigen Botenstoffe. Im Laufe ihrer langen Geschichte haben die Einzeller eine Vielzahl solcher Boten hervorgebracht. Die jeweiligen Stoffe sind unterschiedlich aufgebaut, gemeinsam ist ihnen, dass sie einen Impuls von außen aufnehmen, sich dadurch in spezifischer Weise verändern und die daraus erwachsende veränderte Wirkung wiederum bei anderen eine vorherbestimmte Reaktion auslöst. Letztlich kam es also darauf an, für jede anstehende Aufgabe einen Stoff zu finden, der die jeweils erforderliche Wirkung entfaltete. So gesehen, könnte man die Entwicklung des Lebens durchaus auch als Geschichte der Botenstoffe beschreiben. Die Einzeller leisteten hier ganze Arbeit. Sie brachten Botenstoffe hervor, die innere Prozesse regulieren und solche, die die Nutzung von Informationen aus der Umwelt ermöglichen, sie schufen Lösungen, um Sonnenenergie in körpereigenen Strukturen zu speichern und bei Bedarf wieder freizusetzen und sie erlangten die Fähigkeit, sich aus eigener Kraft fortzubewegen.

Die erfolgreiche Entwicklung der Pflanzen mit ihrer großen Artenvielfalt basiert auf der Beherrschung der Photosynthese. Das gilt in gewissem Sinne auch für Pilze, die durch ihre Symbiose mit grünen Pflanzen an dieser Errungenschaft partizipieren. Allen Pflanzen, die Pilze eingeschlossen, ist gemeinsam, dass sie ihre Lebensprozesse zum größten Teil mit Hilfe von Botenstoffen regulieren. Die Botenstoffe werden mit Hilfe des Wassers, der Luft oder anderer Medien zu den Zellen transportiert, die tätig werden sollen. Wenn zum Beispiel in den Blättern das lebensnotwendige Wasser knapp wird, könnte eine Maßnahme darin bestehen, die Wurzeln tiefer zu treiben, um dort eventuell fündig zu werden. Natürlich geht das nur, wenn diese Reaktion im Bauplan der Pflanze als Fähigkeit angelegt ist. Die Information „Wassermangel“, möglicherweise in den Blättern der Baumkrone entstanden, löst die Produktion entsprechender Botenstoffe aus, die, in die Tiefenwurzeln gesandt, dort Wachstum veranlassen. Dazu werden die Botenstoffe mit Hilfe spezieller Zellen durch den gesamten Korpus des Baumes geleitet. In anderen Fällen wird die Luft als Transportmittel genutzt. Wenn zum Beispiel einzelne Blätter beginnen, Chlorophyll abzubauen, weil die Witterung herbstlich wird, dann senden sie Botenstoffe aus, die über die Luft zu anderen Blättern gelangen und dort analoge Prozesse bewirken. Auf diese Weise entsteht eine Kettenreaktion, die den gesamten Baum erfasst. Vielleicht werden auch Nachbarbäume einbezogen, Luft ist halt kein wirklich zielgenaues Transportmittel.

Eine andere große Erfindung der Einzeller war die Bewegung aus eigener Kraft, die mit völlig neuen Anforderungen an die Informationsprozesse einherging. Eigentlich hatte es ganz harmlos begonnen. Einige der in den Meeren lebenden Einzeller hatten Ausstülpungen ihrer Hülle gebildet, die sie bewegen konnten. Durch diese Bewegungen entstanden im Wasser kleine Wellen, auf denen die Zelle davonschwebte. Für die Bewegung der Ausstülpungen ist jedoch Energie erforderlich, und die ist ein rares Gut. Der Einsatz von Energie musste deshalb auf solche Situationen begrenzt bleiben, die einen Ortswechsel tatsächlich notwendig machten. Dieser wird für einen Einzeller dann wichtig, wenn am gegebenen Aufenthaltsort die Stoffe zum Überleben knapp werden. Ein solcher Mangel ruft deshalb die Bildung von Botenstoffen hervor, die die Ausstülpungen in Bewegung setzen. Die Bewegungen waren jetzt zwar zweckgebunden, aber noch immer ziellos. Um ihnen ein Ziel geben zu können, mussten die Einzeller Sensoren entwickeln, die auf Nährstoffe reagieren. Trifft nun ein Atom oder Molekül mit einer entsprechenden Struktur auf eine sensibilisierte Stelle der Außenhaut, dann wird dort eine Reaktion ausgelöst, die zur Bildung des Botenstoffs führt. Dieser Botenstoff wird zu den Ausstülpungen geleitet, wo er deren Bewegung veranlasst. Welcher Sensor welche Ausstülpung aktiviert, um die georteten Nährstoffe zu erreichen, ist im Bauplan der Zelle festgelegt.

In der weiteren Entwicklung entstanden mehrzellige Wesen, die ihre Überlebensstrategie auf Bewegung gründeten. Für die Fortbewegung dieser, Tiere genannten, Lebewesen waren Aktionen verschiedener Zellen zu koordinieren, das heißt, die Informationen respektive Botenstoffe mussten auf viele Zellen, die sich an unterschiedlichen Orten im Organismus befanden, verteilt werden. Transporte durch die Luft oder mit Hilfe von Wasser sind relativ langsam und außerdem unsicher. Das mag für den Baum, der am selben Platz verharrt, kein Problem darstellen, für ein Tier, das sich bewegen will, schon. Es musste ein anderes Transportmittel gefunden werden, das die schnelle und zielgenaue Verbreitung der Informationen im gesamten Organismus ermöglichte. Dafür kamen elektrische Impulse in Frage, die über Leitungssysteme aus Nervenzellen eine schnelle und zielgenaue Weiterleitung der Informationen ermöglichten. Die Verbindungen zwischen den Nervenzellen wie auch zwischen den Nervenzellen und den anderen Körperzellen wurden weiterhin mit Hilfe von Stoffen gesichert, die den elektrischen Impuls aufnehmen, sich verändern und die veränderte Wirkung auf die folgende Zelle übertragen. Ist die folgende Zelle ebenfalls eine Nervenzelle, wird erneut ein elektrischer Impuls ausgelöst, der die Information weiterleitet. Ist die folgende Zelle eine Muskelzelle, kann die ankommende Wirkung beispielsweise eine Kontraktion und damit eine Bewegung hervorrufen.

Informationen über die Umwelt entstehen in Sensorzellen, die sich meist auf der äußeren Hülle befinden. Eine solche Information könnte beinhalten, dass Fressbares aufgetaucht ist. Für ein Tier gilt es nun, aus dieser Information eine zielgerichtete Aktion werden zu lassen, die mit der angestrebten Nahrungsaufnahme endet. Dazu muss es feststellen, woher die Information kam und welche Bewegungen in Richtung der erhofften Beute erforderlich sind. Falls diese ein Tier ist, muss es gefangen werden. Dazu braucht der Jäger seine Muskeln, vielleicht auch seine Waffen, für deren Einsatz genügend Energie bereitstehen muss. Das heißt, die Energiebereitstellung, aber auch die Verdauung, sind auf die zu erwartenden Aufgaben einzustellen. Für die Jagd sind also eine Reihe von Aktivitäten zu koordinieren, weshalb die Information „Fressbares aufgetaucht“ planmäßig im Organismus verteilt werden muss. Zu diesem Zweck bildete sich ein Netz von Nervenzellen, das in seiner Struktur den Ablauf des Prozesses, in unserem Fall der Jagd, abbildet. Nimmt nun ein Sensor der Außenhaut Fressbares in der Umwelt wahr, dann generiert er einen elektrischen Impuls, der über dieses neuronale Netz im Körper verteilt wird. Bei den Empfängern des Impulses wird die Produktion von Botenstoffen in Gang gesetzt, welche nun ihrerseits die entsprechenden Organe, Extremitäten und sonstigen Mitspieler aktivieren.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Jagd ist, dass eine mögliche Beute geortet wurde, das heißt, den Bewegungen eine Richtung gegeben werden kann. War es bei den Einzellern noch möglich, dass ein Signal eine bestimmte Ausstülpung der Hülle aktivierte, um die Bewegung in die erforderliche Richtung zu lenken, so sind bei mehrzelligen Wesen die Aktivitäten einer ganzen Reihe von Zellen zu koordinieren, denen allesamt eine Richtung vorgegeben werden muss. Um diese allgemeingültig bestimmen zu können, musste der Raum selbst eine Ausrichtung erhalten. Vorn und hinten ließen sich definieren, indem der Körper voneinander unterschiedene Teile ausprägte. Einige spezialisierte Zellen, zum Beispiel zur Nahrungsaufnahme, wurden an dem einen Ende konzentriert, andere, zum Beispiel zum Ausscheiden der Abfälle, am anderen. Da für das Auffinden und Einverleiben der Nahrung möglichst viele Informationen aus der Umwelt erforderlich sind, siedelte sich die Mehrzahl der Sensoren auf dieser Seite des Körpers an. Sie befanden dann auch: wo wir sind, ist vorn. Die Ausscheidung erfolgt nach der Verdauung, also hinten. Oben und unten ließen sich durch die  Schwerkraft bestimmen. Außerdem bildeten sich bei den meisten Arten zwei beinahe gleiche Körperseiten aus, die die seitlichen Dimensionen der Bewegung erschlossen. In diesem Koordinatensystem konnte nun eine Vielzahl von Bewegungsrichtungen definiert werden.

Die ersten Tiere lebten im Wasser, Bewegungen waren aber nicht nur dort, sondern auch im und auf dem Meeresboden möglich. Das heißt, unter Umständen war eine Bewegung nicht nur durch ihre Richtung definiert, sondern auch durch das Medium, in dem sie erfolgen sollte. Für alle Bewegungsvarianten mussten spezielle neuronale Netze zur Steuerung vorgehalten werden, mit der Folge, dass vor dem Beginn einer Aktion das am besten geeignete Bewegungs- oder Verhaltensmuster auszuwählen war. Zur Erleichterung dieser Aufgabe wurden die entsprechenden neuronalen Strukturen in Gehirnen, das heißt auf engem Raum konzentriert. Sie fanden in der Nähe des Ortes ihren Platz, an dem auch die meisten Sinnesorgane angesiedelt waren. Ein Kopf bildete sich heraus, der das Gehirn, die Organe zur Nahrungsaufnahme sowie die Mehrzahl der Sinnesorgane versammelte. Er wurde zur Steuerungszentrale des Organismus. Wegbereiter all dieser Neuerungen waren urzeitliche Würmer, die sich damit einen Platz in unserer Ahnengalerie sicherten.

Mit der Herausbildung der Gehirne differenzierten sich auch die Aufgaben der Nervenzellen. Eine Gruppe dieser Zellen übernahm die Speicherung der Bewegungs- und Verhaltensmuster sowie der mit ihnen verbundenen Erfahrungen. Diese Nervenzellen mussten in der Lage sein, die entstandenen neuronalen Strukturen zu festigen, wenn deren Bedeutung für das Leben wuchs. Sie mussten aber auch Verbindungen wieder lösen können, sollten sie nicht mehr benötigt werden. Eine andere Gruppe von Nervenzellen spezialisierte sich auf die Vernetzung der nach und nach entstehenden Hirnbereiche. Sie mussten vor allem in der Lage sein, eine Vielzahl derartiger Verbindungen herzustellen, das heißt das Networking im Gehirn zu sichern. Eine dritte Gruppe schließlich blieb für den Transport der Informationen im Körper zuständig. Zu diesem Zweck bildeten sie einen Strang, gewissermaßen eine Datenautobahn, der die gesamte Länge des Körpers durchzog. Von diesem Strang gehen Verzweigungen in beinahe alle seine Teile, so dass die Informationen schnell und umfassend verteilt werden können.

Wird nun ein Umweltreiz, zum Beispiel eine potenzielle Beute, registriert, das heißt, ein Sensor, sagen wir der Geruchssinn, spricht an, dann sendet er diese Information in Form eines elektrischen Impulses über die Nervenleitungen an das Gehirn. Dort aktiviert der Impuls das dieser Wahrnehmung zugeordnete Verhaltensmuster. Das entsprechende neuronale Netz veranlasst die Produktion von Botenstoffen, mit denen die für die bevorstehende Aktion erforderlichen Organe beziehungsweise Zellen aktiviert werden. Eine derartige Kopplung einzelner Signale mit vorherbestimmten Verhaltensmustern ist insbesondere für Insekten und Krebse typisch. Sie ist genetisch fixiert und damit für alle Tiere einer Art in gleicher Weise vorgegeben. Wie ist das aber mit der Bewegung dieser Tiere? Basiert sie ebenfalls auf festgelegten Mustern? Wenn eine Ameise den Weg zurück zu ihrem Volk sucht, zum Beispiel weil das gefundene Blatt abgeliefert werden soll, dann folgt sie einem fest verankerten Verhaltensmuster. In ihren Bewegungen, ihrem Lauf durch den Wald muss sie aber die konkreten Gegebenheiten des Weges berücksichtigen, will sie ihr Ziel erreichen. Vielleicht muss sie über einen Zweig klettern oder eine abschüssige Stelle überwinden. Das Verhaltensmuster, Blatt nach Hause bringen, wird deshalb mit kleinteiligen Bewegungsmustern für jeden Abschnitt der Gesamtbewegung untersetzt. Diese Teilbewegungen sind ebenfalls in neuronalen Netzen angelegt, ihre jeweilige Kombination erfolgt jedoch in Anpassung an die konkrete Situation. Mit anderen Worten, Zielgebung oder Verhaltensmuster und Ausführung, das heißt Bewegungsmuster basieren auf getrennt voneinander existierenden neuronalen Strukturen, die sich im Laufe der Entwicklung auch in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns konzentrierten.

zuletzt geändert: 03.0.2019

Bild: Reitender Bote nach A. Dürer, gefunden: de.academic.ru