Wie ist das nun mit den Bewegungen? Wie kann man Bewegungen messen?
In der Praxis scheint das wieder recht simpel zu sein. Man misst eine Strecke aus, die eine Läuferin zurücklegen soll. Dann misst man die Zeit, die sie für die Strecke benötigt und kann daraus die Geschwindigkeit, das heißt die Anzahl der Meter, die sie in der Zeiteinheit zurücklegt, ermitteln. Diese Messung hat allerdings eine ganze Reihe von Voraussetzungen. So gehen wir davon aus, dass die Läuferin diese Strecke auf schnurgeradem Wege hinter sich bringt, das heißt, tatsächlich nur die ausgemessene Entfernung zurücklegt. Die dritte Dimension, das Auf und Ab des Körpers, lassen wir bei der Ermittlung der zurückgelegten Strecke gänzlich außen vor. Wir berücksichtigen auch nicht, dass die Läuferin einmal schneller und dann wieder langsamer laufen könnte. Wir ermitteln einen Durchschnittswert. Außerdem könnte es noch diverse Messfehler gegeben haben, zum Beispiel weil die Strecke nicht exakt vermessen wurde oder weil der Messende die Handhabung der Stoppuhr nicht gewöhnt war. Selbst wenn wir sagen, für unseren Zweck reicht die erhaltene Genauigkeit aus, dann steht da immer noch die Frage im Raum, was unsere Messung eigentlich aussagt.
Wir messen einen Weg in Relation zum Urmeter. Unsere Strecke ist, sagen wir, einhundert Mal die Länge vom Urmeter. Und wir messen die für den Lauf benötigte Zeit. Das Ergebnis sind 14,3 Sekunden oder anders gesagt, 14,3 Teile des in 86.400 Sekunden untergliederten Sonnentags. Diese beiden relativen Ergebnisse setzen wir ins Verhältnis und erhalten die durchschnittliche Geschwindigkeit der Läuferin. Das Ergebnis aus zwei relativen Größen kann nur wieder eine relative Größe sein. Das heißt, wir ermitteln eine relative Geschwindigkeit, auch wenn der Bezug zum Urmeter beziehungsweise zum Sonnentag bereits in den Hintergrund getreten ist. Trotz der Relativität der Messung wird allerdings niemand bestreiten, dass sich die Läuferin bewegt, auch wenn wir ihre Geschwindigkeit nicht als absolute Größe ermitteln können. Es kommt noch etwas hinzu, denn nicht nur das Messen der Geschwindigkeit ist relativ, in Relation zu einem beziehungsweise mehreren Maßstäben, auch die Bewegung selbst können wir immer nur in einem bestimmten Bezugssystem beobachten. Je nach dem, wie wir dieses Bezugssystem definieren, ändert sich auch die von uns wahrgenommene und gemessene Bewegung. Zum besseren Verständnis müssen wir jetzt etwas tiefer in einige Beispiele eintauchen.
Stellen Sie sich vor, sie fahren in einem Zug. Die Fenster sind verdunkelt, so dass ein Blick nach draußen nicht möglich ist. Der Zug gleitet mit konstanter Geschwindigkeit erschütterungsfrei dahin. Unter diesen Bedingungen ist es für sie oder einen Mitreisenden nicht möglich, die Position oder die Geschwindigkeit des Zuges festzustellen. Für sie befindet sich das geschlossene System Zug mit allen Dingen darin in scheinbarer Ruhe. Eine Bewegung wäre nur durch den Blick nach draußen erkennbar. Das heißt, die gleichmäßige Bewegung eines Systems ist nur in Bezug auf die Umgebung, also auf ein anderes System wahrnehmbar und damit messbar.
Eigentlich wird damit eine Binsenweisheit beschrieben. Gilt doch für jede Messung, dass sie ihrem Wesen nach relativ ist. Sie benötigt sowohl einen gleichbleibenden Maßstab und ein genaues Messverfahren als auch äußere Bedingungen, die in den für die Messung relevanten Eigenschaften unverändert bleiben. Für den Zug als Ganzes ist der unveränderliche Bezug mit der Landschaft gegeben, in der er sich bewegt. Für die Reisenden im Zug ist es das Innere des Zuges selbst, an dem sich jede Bewegung misst.
Stellen Sie sich nun vor, die Rollos, mit denen die Fenster des Zuges verdunkelt waren, werden hoch gezogen und der Blick durch die Scheiben wird möglich. Sie selbst seien zur Abwechslung nicht im Zug, sie stehen vielmehr am Bahndamm und können für die kurze Zeit des Vorbeifahrens in das Innere des Zuges blicken.
Im Abteil lässt ein Junge einen Tischtennisball auf einer Tischplatte springen. Der Ball springt sehr gerade, das heißt, vom selben Platz aus, hoch. So sieht es zumindest der Junge im Zug. Am Bahndamm stehend sehen Sie jedoch, dass sich der Zug bewegt, und mit ihm der Tisch und der Tischtennisball. In Ihrem Bezugssystem der offenen Landschaft ist augenscheinlich, dass sich der Tischtennisball bei jedem Hochspringen vom Tisch an einem anderen Ort in dieser Landschaft befindet. Man könnte fragen, wer hat nun recht mit seiner Beobachtung – sie, der sie am Bahndamm stehen und sehen, dass sich der Tischtennisball bei jeder Bewegung an einem anderen Punkt in der Landschaft befindet, oder der Junge im Zug, für den der Ball immer an der selben Stelle hochspringt. Offensichtlich haben beide recht – der Junge, der keinen Blick nach draußen wirft, weil er mit seinem Tischtennisball beschäftigt ist, und sie, der sie am Bahndamm stehen und den Zug, den Jungen und den Tischtennisball an sich vorbeifahren sehen.
Der Vater des Jungen, der sich ebenfalls im Zug befindet, sieht, als er seinen Blick kreisen lässt, sowohl den Jungen, der mit seinem Tischtennisball spielt, als auch einen einsamen Spaziergänger am Bahndamm. Ihm mögen die gleichen Gedanken durch den Kopf gehen wie uns. Er fragt sich nun, was würde passieren, wenn nach einiger Zeit die Rollos des Zugabteils wieder herunter gelassen würden. Wiederum wäre im Zug nicht feststellbar, ob und mit welcher Geschwindigkeit sich dieser bewegt. Müsste der Vater nun vergessen, was er vorher beobachtet hatte, weil er es jetzt nicht mehr wahrnehmen kann? Anders ausgedrückt, ist nur das aus Wahrnehmung respektive Messung entstandene Wissen des Beobachters „Wahrheit“ oder gibt es unabhängig von dieser Wahrheit noch eine andere Wahrheit, die nicht minder richtig ist, auch wenn sie unter den gegebenen Bedingungen nicht gemessen werden kann?
Obwohl der Reisende im gleichförmig dahin gleitenden Zug dessen Bewegung nicht wahrnimmt, so ist diese Bewegung doch vorhanden, wie der Beobachter am Bahndamm bezeugen wird. Damit nicht genug, denn der Zug bewegt sich nicht nur auf den Schienen durch die Landschaft, er nimmt auch an der Bewegung der Erde um ihre eigene Achse teil. Mit der Erde bewegt er sich um die Sonne, mit dem Sonnensystem um den Kern der Galaxis. Auch die Dinge im Inneren des Zuges sind nicht so bewegungslos, wie sie scheinen, denn ihre Bausteine – Moleküle, Atome sowie deren Bestandteile – führen ein eigenes bewegtes „Leben“. Alles ist in Bewegung. Panta rhei, wie die alten Griechen meinten. Obwohl sich ein Objekt in einem bestimmten Bezugssystem in Ruhe befindet, wird man in einem anderen Bezugssystem hinsichtlich des selben Objekts Bewegung registrieren. Das heißt, wir „wissen“, dass auch dann, wenn wir keine Bewegung messen können, eine Bewegung in jedem Fall vorhanden ist. Diese Bewegung kann in mindestens einem Bezugssystem beobachtet beziehungsweise gemessen werden. Wenn man das Bezugssystem, in dem die Messung möglich war, verlässt, dann verschwindet die eben noch gemessene Bewegung nicht, auch wenn sie nun nicht mehr gemessen werden kann. Mit anderen Worten, jede konkrete im gegebenen Bezugssystem messbare, mithin relative Bewegung, kann in einem anderen Bezugssystem zur nur noch absoluten, das heißt, objektiv zwar vorhandenen aber nicht mehr messbaren Bewegung werden.
Um das Zusammenwirken von absoluter und relativer Bewegung besser zu verstehen, wollen wir uns ein weiteres Beispiel anschauen. Stellen Sie sich eine Autoverfolgungsjagd vor, wie sie mitunter in Kriminalfilmen zu sehen ist. Es kommt zu der Szene, da Räuber und Gendarm mit ihren Autos auf gleicher Höhe fahren. Die Geschwindigkeit der Autos sei 100 Kilometer in der Stunde. Trotzdem wird der Superheld vom Dach des einen Autos auf das Dach des anderen Autos springen. Das ist möglich, weil die relative Geschwindigkeit der beiden Autos zueinander annähernd Null ist. Das heißt, im Bezugssystem der beiden gleichmäßig dahin rasenden Autos herrscht relative Ruhe, in dem Sinne, dass sich die Autos nicht voneinander entfernen. Trotzdem rasen sie mit 100 km/h die Straße entlang, was unserem Helden spätestens dann schmerzhaft bewusst würde, wenn der Sprung misslingen sollte und er nicht auf dem anderen Auto sondern im Straßengraben landete. Die Bewegung ein und desselben Autos erlangt also in Abhängigkeit vom betrachteten Bezugssystem (Auto oder Straßengraben) unterschiedliche physikalische Bedeutung.
Das ist noch nicht alles. Bevor die Autos im Rahmen der Verfolgungsjagd auf gleicher Höhe fuhren, war es nämlich zu einer Schießerei gekommen. Sagen wir der Einfachheit halber, beide Autos hatten zu diesem Zeitpunkt ebenfalls eine konstante Geschwindigkeit von 100 km/h. Die Frage ist, welche Auswirkungen hat die Geschwindigkeit der Autos auf die Geschwindigkeit der Pistolenkugeln? Müssen wir die 100 km/h der Autos zur Geschwindigkeit der Kugeln hinzuaddieren? In unserem Beispiel rasen die Autos zwar mit 100 km/h die Straße entlang, ihr Abstand zueinander verändert sich jedoch nicht. Insofern bewegt sich die Kugel in einem „ruhenden“ System. Ihre Geschwindigkeit respektive Energie beim Aufprall auf den verfolgten Wagen ist keine andere, als wenn die Autos irgendwo – gleichen Abstand zueinander vorausgesetzt – auf einem Parkplatz stünden. Ganz anders sieht es aus, wenn die Kugel des Verfolgers ihr Ziel verfehlt und in ein am Straßenrand parkendes Auto einschlägt. In diesem Fall befinden sich die beteiligten Autos nicht in relativer Ruhe zueinander. Das verfolgende Polizeiauto und das parkende Auto bewegen sich aufeinander zu. Zur „normalen“ Geschwindigkeit respektive Energie der Kugel kommt nun die relative Geschwindigkeit, mit der sich die beiden Autos einander annähern, hinzu. Die Aufprallenergie der Kugel erhöht sich um den aus der Bewegung des Autos resultierenden Energiebetrag. Wiederum erlangt also ein und dieselbe Bewegung eine andere physikalische Bedeutung, sobald das betrachtete Bezugssystem wechselt. Dies würde sich auch in den entsprechenden Messergebnissen widerspiegeln.
Es könnte natürlich sein, dass das fälschlicherweise getroffene Auto nicht am Straßenrand parkte, sondern dem Schützen entgegen kam. Dann ist neben der Geschwindigkeit respektive Energie des Polizeiautos auch die Geschwindigkeit des entgegenkommenden Autos bei der Bestimmung der Aufprallenergie der Kugel zu berücksichtigen. Die relative Geschwindigkeit, mit der sich die Kugel dem entgegenkommenden Auto nähert, ist wiederum höher als in Bezug zum parkenden Auto. Auf der anderen Seite erhält die Kugel ihre Bewegung durch den Impuls, der von der Waffe ausgeht. Dieser Impuls verändert sich nicht. Das heißt, die Geschwindigkeit, mit der sich die Kugel von der Waffe entfernt, wird durch die Geschwindigkeit des Autos nicht beeinflusst. In diesem Sinne ist sie absolut. Soll die Geschwindigkeit, mit der sich die Kugel von der Waffe weg bewegt, gemessen werden, dann müsste sich der Messende innerhalb des betrachteten Bezugssystems und dort in relativer Ruhe zum Gegenstand der Messung befinden. Das heißt, er muss sich mit der gleichen Geschwindigkeit und in die selbe Richtung wie unser Schütze bewegen. Messungen, die von einem parkenden oder einem entgegen kommenden Auto vorgenommen würden, wären immer durch die relative Bewegung zwischen dem Messenden und dem Gemessenen beeinflusst. Würde man trotzdem eine Messung von außen, das heißt von außerhalb des Bezugssystems, versuchen, müssten die zusätzlichen Faktoren, die nun die Messung beeinflussen, separat bestimmt werden, wodurch allerdings die Zahl möglicher Fehlerquellen wächst.
Diese scheinbar komplizierten Zusammenhänge können auf die bereits genannten Grundprinzipien des Messens zurückgeführt werden. Für jede Messung braucht man einen Maßstab und ein Messverfahren, die sich im Rahmen einer Messreihe nicht verändern dürfen. Das gleiche gilt für das betrachtete Bezugssystem und die in ihm herrschenden Bedingungen. Nur unter dieser Voraussetzung sind die erzielten Ergebnisse wirklich vergleichbar.
Zur Dialektik des Messens von Bewegungen finden sich im zweiten Teil im Abschnitt „Objektive Realität und subjektive Wahrnehmung“ weitere Überlegungen.
Bild: www.oberberg-aktuell.de
zuletzt geändert: 30.05.2019