Immer muss man sich entscheiden

Man muss sich entscheiden, welchen Weg man gehen soll, um ans Ziel zu gelangen, wie man sich verhalten soll, um erfolgreich zu sein, was man tun soll, um jemanden für sich zu gewinnen. Oft geht es darum, das eigene Verhalten zu optimieren, manchmal auch darum, die richtige Alternative zu wählen. So oder so, Entscheidungen betreffen immer die Auswahl einer von mehreren möglichen Varianten des Handelns. Ziel muss es sein, die Variante auszuwählen, die den größten Erfolg verspricht beziehungsweise die die höchste Dringlichkeit besitzt. Der Maßstab, an dem sich Erfolg oder Dringlichkeit messen, ist in letzter Konsequenz die Erhaltung des Lebens, des eigenen oder das der Art.

Die Erhaltung des Lebens erfordert den Schutz vor Gefahren genauso wie die Beschaffung von Stoffen und Energie für seine permanente Erneuerung. „Fressen oder Gefressenwerden“ war die Herausforderung, die das Leben von Anbeginn an begleitete. Bereits die Einzeller mussten Vorsorge treffen, um auftauchenden Gefahren zu begegnen. Sie entwickelten Abwehr- und Fluchtvarianten, die bei einem bestimmten äußeren Reiz, zum Beispiel einer Berührung, automatisch ablaufen. Eine Entscheidung ist nicht erforderlich. Pflanzen sind meist diejenigen, die gefressen werden. Sie können vor ihren Feinden nicht davonlaufen, sie können sich nur zur Wehr setzen, indem sie sich Stacheln zulegen, Gifte bilden oder den Tieren auf andere Weise den Verzehr verleiden. Diese Strategien zur Verteidigung sind im Bauplan der Pflanze verankert, individuelle Entscheidungen sind auch hier nicht vorgesehen. Viele Tiere bis hin zu Krebsen und Insekten haben ebenfalls Strategien des Überlebens entwickelt, die automatisch aufgerufen werden, sobald ein bestimmter Reiz registriert wird. Da sticht die Wespe schon mal, auch wenn man ihr gar nichts Böses will. Sie tut das nicht mit Absicht, es passiert eben. Es hat auch nichts mit der gestochenen Person zu tun, die ist ihr egal. Die gestochene Person hat lediglich etwas getan, was dieses Abwehrverhalten auslöste.

Vieles wurde anders als das Gedächtnis entstand. Mit seiner Entwicklung ging auch eine Veränderung des Gehirns einher. Zum „angestammten“ Teil, der die Körperfunktionen reguliert und automatische Reaktionen auf bestimmte äußere Reize auslöst, kamen weitere Teile hinzu. In dem einen, dem Kleinhirn, sind die ererbten respektive erworbenen Bewegungsmuster konzentriert. Dieser Teil des Gehirns verarbeitet die Informationen zur Ausrichtung des Körpers im Raum wie auch visuelle und andere Reize, mit denen die Gegebenheiten des direkten Umfelds erfasst werden. Auf dieser Basis koordiniert und steuert es die Bewegungen. In dem anderen Teil, dem Großhirn, sind die ererbten und erworbenen Verhaltensmuster versammelt. Dort werden sowohl die Bedürfnisse des Körpers erfasst als auch die Informationen der Sinnesorgane verarbeitet. Die Informationen werden mit Erfahrungen abgeglichen, um in Abwägung von Gefahren und Bedürfnissen die Prioritäten des Handelns zu bestimmen.

Jede Situation ist durch eine Vielzahl, teilweise sehr spezieller Details charakterisiert. Würde sich der Abgleich von Informationen mit Erfahrungen auf der Basis der Identität aller dieser Merkmale vollziehen, wären kaum Treffer zu landen. Um Erfahrungen, also vorangegangene Erlebisse, für eine Entscheidung nutzen zu können, ist es erforderlich, sie auf wesentliche Faktoren und Abläufe zu reduzieren, anhand derer sie den aktuellen Ereignissen zuordenbar sind. Mit der Reduzierung der Erfahrungen auf Wesentliches entsteht darüber hinaus die Möglichkeit, mehrere ähnliche Ereignisse zu einer Erfahrung zusammenzufassen. Erfahrungen beinhalten aber nicht nur Faktoren und Abläufe eines Geschehens, sondern auch die Bewertung des mit ihm verbundenen Erfolgs oder Misserfolgs. War die eingeleitete Aktion erfolgreich, dann geht dies aufwertend in die Erfahrung ein, endete sie in einem Desaster, dann ist die vorangegangene Entscheidung, einschließlich der ihr zugrundeliegenden Einschätzung der Situation, in Zweifel zu ziehen.

Die Nutzung von Erfahrungen wurde zum prägenden Merkmal der Wirbeltiere. Als ihre ersten Vertreter gelten urzeitliche Kreaturen, die den heutigen Neunaugen ähnelten. Aus ihnen gingen die Fische hervor. Für Fische ist die dominierende Rolle des Kleinhirns charakteristisch. Offensichtlich hat für sie die Anpassung von Bewegungsabläufen an die konkreten Umweltbedingungen einen deutlich höheren Stellenwert als die Verwaltung von alternativen Verhaltensmustern. Das änderte sich mit dem Landgang der Tiere, denn nun wurden die Gegebenheiten, denen die Tiere sich in ihrem Verhalten anpassen mussten, ungleich vielfältiger. Zur Erlangung der dafür erforderlichen Informationen bildeten sich komplexe Sinne aus. Wahrscheinlich war es der Geruchssinn, der sich zuerst in dieser Weise entwickelte, das legt zumindest das Gehirn der Amphibien nahe. Mit dem Geruchssinn werden Partikel, die durch die Luft herangeweht werden, registriert. Der große Vorteil dieser Wahrnehmung besteht darin, dass sie auf Nahrung oder auf Gefahren hinweist, die sich noch in Distanz zum eigenen Körper befinden. Damit öffnen sie ein Zeitfenster, das die Prüfung der Informationen und eine abwägende Entscheidung zum weiteren Verhalten ermöglicht.

Die Nutzung der mit den herangewehten Partikeln verbundenen Informationen erfordert, dass diese eingefangen und identifiziert werden. Einzeller hatten bereits Sensoren hervorgebracht, die auf Stoffe, die das Wasser heranspült, reagieren. Diese Fähigkeit konnte genutzt werden, um auch Partikel, die durch die Luft wehen, zu identifizieren. Die dazu erforderlichen Sinneszellen wurden zweckmäßigerweise in den Organen zur Luftaufnahme platziert. Dass sie dort in ein feuchtes Umfeld eingebettet sind, ist wohl auf ihre Erfinder zurückzuführen. Wird nun von einer solchen Sinneszelle ein Molekül erfasst, auf dessen Struktur sie spezialisiert ist, dann generiert sie einen elektrischen Impuls, der an das Gehirn geleitet wird. Dort aktiviert der Impuls ein festgelegtes Verhaltensmuster. Sind die Geruchspartikel einem gefährlichen Räuber zugeordnet, wird die sofortige Flucht die Rettung sein. Das Leben besteht aber nicht nur aus Gefahren. Taucht ein paarungsbereites Weibchen in Riechweite eines potenziellen Samenspenders auf, dann werden die identifizierten Geruchspartikel keine überstürzte Flucht auslösen, eher wird unser Romeo aufdringlich werden.

Die Fähigkeit, kleinste Partikel in der Luft zu erkennen, bietet jedoch weitaus mehr Informationspotenzial als das, was mit den wenigen grundlegenden Gerüchen, die sofort ein bestimmtes Verhalten auslösen, ausgeschöpft wird. Die Stoffe können nämlich in ganz unterschiedlichen Kombinationen auftreten und auf diese Weise „Geruchsbilder“ formen. Diese Geruchsbilder sind so vielfältig, dass es nicht möglich war, jedem von ihnen ein Verhaltensmuster zuzuordnen. Die in ihnen steckenden Informationen mussten auf anderem Wege gewonnen werden. In gewisser Weise hatten die Fische bereits eine Lösung des Problems gefunden. Fische gleichen Informationen aus der unmittelbaren Umgebung mit gespeicherten Erfahrungen ab, um ihre Bewegungen zu optimieren. Dieser Prozess vollzieht sich im Kleinhirn. In einem ähnlichen Prozess mussten nun im Großhirn Erfahrungen zu bereits bekannten Geruchsbildern mit den eingehenden Informationen abgeglichen werden, um diese zu identifizieren und das Verhalten darauf einzustellen.

Im Laufe der Zeit bildeten sich weitere komplexe Sinne aus. Große Bedeutung erlangte das Gehör, mit dem Luftbewegungen wahrgenommen werden. Luftiiritationen können zum Beispiel durch Bewegungen anderer Lebewesen hervorgerufen werden. Kann man sie wahrnehmen und deuten, können sie unter Umständen Informationen über einen Räuber oder über eine potenzielle Beute liefern, die bis dahin weder zu sehen noch zu riechen war. Dazu müssen die Bewegungen der Luft aber nicht nur registriert und lokalisiert, sondern auch mit Hilfe von Erfahrungen identifiziert werden. Die Erfahrungen muss jeder selbst sammeln, sie werden nicht vererbt. Eine Verankerung im Erbgut kam schon deshalb nicht in Frage, weil die Lebensumstände, für die die Erfahrungen benötigt werden, sehr unterschiedlich sein können und sich zudem ständig verändern. Es zeigte sich jedoch, dass das Erkennen von Geräuschen schon für Neugeborene überlebenswichtig sein kann, weshalb der erforderliche Lernprozess so früh wie möglich, das heißt bereits im Mutterleib, einsetzten muss.

Eine andere wichtige Informationsquelle sind die Augen. Das Sehen war bereits in einer frühen Phase der Evolution zur Orientierung in der direkten Umgebung und zur Steuerung der Bewegungen entstanden. Die Herausbildung des räumlichen Sehens eröffnete jedoch in mehrfacher Hinsicht neue Perspektiven. In Kombination mit dem sich entwickelnden Gedächtnis wurde es nun möglich, größere Gebiete für eine gezielte Nahrungssuche zu erschließen. Auch Gefahren wurden besser erkannt, so dass man ihnen auf neue Weise begegnen konnte. Die Kehrseite dieser Entwicklung war die mit dem räumlichen Sehen verbundene Informationsflut, die irgendwie bewältigt werden musste. In diesem Zusammenhang stellte sich heraus, dass die Verarbeitung komplexer visueller Informationen relativ viel Zeit erfordert, Zeit, die für die Steuerung von Bewegungen, für die die visuellen Informationen ebenfalls benötigt werden, nur begrenzt zur Verfügung steht. Das Kleinhirn des Menschen braucht beispielsweise eine fünftel Sekunde für die Auswertung der visuellen Informationen, während sich das Großhirn für deren komplexe Bewertung eine halbe Sekunde Zeit lässt.1) Wollte man dem damit verbundenen Dilemma entgehen, mussten die visuellen Informationen unabhängig voneinander in beiden Teilen, das heißt sowohl im Kleinhirn als auch im Großhirn, ausgewertet werden. Die damit verbundene zeitliche Spreizung hat unter anderem zur Folge, dass das Großhirn zwar den Dirigenten geben kann, das Musizieren aber dem Kleinhirn obliegt.

Das Großhirn wird nicht nur von den Sinnesorganen mit Informationen bombardiert, auch der Körper meldet seine Bedürfnisse an, denn letztlich ist deren Befriedigung der Sinn allen Tuns. Beide, die Bedürfnisse des Körpers und die Informationen aus der Umwelt, müssen irgendwie zusammengebracht und nach Prioritäten geordnet werden, damit ein sinnvolles Verhalten möglich wird. Um Prioritäten bestimmen zu können, müssen die eingehenden Informationen irgendwie bewertet werden. Diese Bewertung könnte anhand der Quellen erfolgen, von denen die Informationen stammen. Der aus dem Körper kommenden Nachricht „Nahrung fehlt“ wird sicher ein hoher Stellenwert zugeordnet sein, falls jedoch äußere Sensoren eine akute Gefahr signalisieren, dann wird „Flucht“ und nicht „Fressen“ zur Losung der Stunde. Auch die Platzierung der Sinneszellen kommt als Differenzierungsmerkmal in Betracht. Den Sensoren am Kopf könnte eine höhere Priorität als ähnlichen am Hinterteil gegeben werden. Dann ist da noch die Intensität eines Reizes, die womöglich auf die unmittelbare Nähe einer Gefahr oder einer Beute hinweist. Nicht zu vergessen, dass die Erfahrungen jeder Bewertung eine individuelle Note verleihen.

An dieser Stelle fällt mir ein Erlebnis ein, das schon einige Jahre zurückliegt. Es war in Bulgarien, wo es zu jener Zeit viele frei laufende Hunde gab, bei denen man nicht so recht wusste, ob sie jemanden zugehörten oder ob es streunende Hunde waren. Ich drehte eine kleine Joggingrunde, als plötzlich so ein Hund vor mir stand. Wir waren wohl beide erschrocken, der Hund fasste sich allerdings schneller als ich. Er fletschte die Zähne und knurrte mich böse an. Offensichtlich hatte er gelernt, dass Menschen eher Feinde sind. Tatsächlich wurden freilaufende Hunde zu dieser Zeit nicht gerade gut behandelt, sie mussten sich schon mal vor Schlägen und Fußtritten in Sicherheit bringen. Die Augen des Hundes hatten also Informationen an das Gehirn übermittelt, die auf einen Menschen schließen ließen. Seine Erfahrungen signalisierten ihm Gefahr. Das Gehirn setzte den Körper des Hundes in Alarmbereitschaft. Seine Alternativen waren Angriff oder Flucht. Dieser Hund entschied sich für den Angriff beziehungsweise für die Androhung eines solchen. Dass er sich für diese Alternative entschied, hatte wahrscheinlich den Grund, dass es ein Hund war, der eher zur Aggressivität neigte, denn auch bei Hunden gibt es einige, die den Kampf und andere, die in einer vergleichbaren Situation die Flucht bevorzugen. Eine Ursache für diese Unterschiede mag in den früher gesammelten Erfahrungen liegen, daneben spielt aber auch die genetische Disposition des Tieres eine Rolle. Der Körper des einen Tieres setzt halt mehr Botenstoffe frei, die ein aggressives Verhalten heraufbeschwören, als der eines anderen. Sie sind eben von unterschiedlichem Temperament.

Der Hund hatte sicher an meiner Körpersprache erkannt, dass ich erschrocken war. Er hatte gewiss auch gerochen, dass mich Angst beschlichen hatte. Beides mag seine Entscheidung zu einer Angriffsdrohung beeinflusst haben. Mein Instinkt riet mir zur Flucht. Mein Wissen über Hunde sagte mir, dass ein Fluchtversuch den Hund wohl eher ermuntern würde, tatsächlich zuzubeißen. Also entschloss ich mich, einen Gegenangriff vorzutäuschen. Ich habe den Hund laut beschimpft und bin einen Schritt auf ihn zugegangen. Das war ihm nicht geheuer. Er zog knurrend von dannen, jedenfalls ein paar Schritte, denn noch war sein Körper im Angriffsmodus. Kaum hatte ich mich umgedreht, um meinen Lauf fortzusetzen, war er wieder zähnefletschend hinter mir. Das Spielchen haben wir mehrmals wiederholt, wobei meine vorgetäuschten Angriffe immer mutiger wurden. Irgendwann entkam ich seiner Aufmerksamkeit. Das Erlebnis zeigt, dass der Hund die sich verändernde Situation immer wieder neu bewertete und sein Verhalten entsprechend anpasste. Es bleibt die Frage, warum mir diese Episode nach so vielen Jahren noch immer in lebhafter Erinnerung ist. Es war halt mein erstes Zusammentreffen mit einem streunenden Hund, und ich hatte mehr Schiss, als mir lieb war. Das erste derartige Erlebnis und das starke Gefühl haben diese Episode tief in meinem Gedächtnis verankert. Da sich eine ähnliche Situation bis heute nicht wiederholt hat, wurde sie auch nicht durch andere Erfahrungen relativiert. Gefühle spielen bei der Bewertung von Situationen also offensichtlich eine Rolle. Nur was, um Himmels Willen, sind Gefühle?

zuletzt geändert: 10.09.2019

vgl. Entdeckungsreise durch das Gehirn, Gehirn&Geist spezial, Nr. 1/2011

Bild: topyourjob.wordpress.com