Odins Raben

 

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Die Welt der nordischen Götter ist vielgestaltig. Jedes der sie verehrenden Völker brachte eigene Anschauungen und Legenden in diese Welt ein. Einige der Götter gewannen im Laufe der Zeit an Bedeutung, andere wurden beinahe vergessen. Die Vikinger, zum Beispiel, bewunderten und verehrten Odin als den Meister der Götterwelt. Dieser kriegerische Gott, der Kampf und Zwietracht über alles liebte, ließ die Kämpfer zu rasenden Ungeheuern werden, die das eigene Leben nicht achteten. Die Vikinger verehrten ihn wohl auch deshalb, weil der Kampf zu ihrem Leben gehörte. Ackerbau, Viehzucht und auch die Jagd waren mühselig und konnten sie kaum ernähren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gerade junge Leute auf Raubzüge sannen, um sich zu beweisen und auch, um auf diese Weise einen Beitrag zum Überleben der Sippe zu leisten. Gleichzeitig mussten die Sippen selbst vor räuberischen Nachbarn auf der Hut sein. Man brauchte zum Überleben daher nicht nur Unerschrockenheit und Kampferfahrung sondern auch Wissen über die Feinde und deren Absichten. Odin bediente sich zweier Raben, die er aussandte, um Neuigkeiten zu sammeln und ihm zuzutragen. Die Raben hießen Hugin, was soviel bedeutet wie „Gedanke“, und Munin „Erinnerung“.1)

Die Raben flogen aus und kamen mit Informationen zu ihrem Herrn zurück. Sie wussten also, wer ihr Herr war und wo sie ihn finden würden. Sie erkannten Neuigkeiten und konnten diese Informationen erinnern. Das sind erstaunliche Fähigkeiten. Offensichtlich war bereits den Vikingern aufgefallen, dass Raben ganz besondere Vögel sind. Tatsächlich nötigt auch uns Heutigen die Schlauheit der Raben Bewunderung ab. Sie besitzen eine erstaunliche Merkfähigkeit, die sie befähigt, Futterverstecke über lange Zeit zu erinnern. Ihnen ist auch klar, dass andere ihre Vorräte rauben könnten, jedenfalls achten sie darauf, dass sie beim Anlegen von Verstecken nicht von anderen Raben beobachtet werden. Wahrscheinlich haben sie aus der Erfahrung, bestohlen worden zu sein, die Schlussfolgerung gezogen, Vorsicht walten zu lassen. Diese Erkenntnis vermögen sie an den Nachwuchs weiterzugeben, der auf diesem Wege diesen und manch anderen Trick des Lebens lernt.

Man könnte natürlich vermuten, dass es sich um angeborene Verhaltensweisen handelt. Dem steht entgegen, dass es viele Beispiele gibt, die zeigen, wie sich Raben und Krähen eine konkrete Situation zu nutze machen, um an Nahrung zu gelangen. Sie locken Vögel mit fiesen Tricks von ihren Nestern weg, um die Gelege auszurauben. Sie sind zur Stelle, wenn ein Schuss fällt, der auf eine Jagdgesellschaft schließen lässt, oder wenn Wölfe heulen, denn es könnte ja ein Brosamen für sie abfallen. Raben nutzen Werkzeuge, gegebenenfalls auch den Straßenverkehr, um Nüsse oder Früchte zu knacken. Aber nicht nur die kluge Nutzung von Gegebenheiten gehört zu ihrem Repertoire, sie sind auch Meister der arglistigen Täuschung. In einem Experiment ließ man zwei Raben zusehen, wie in einem Gehege Futter versteckt wurde.2) Wurde der Zugang zu diesem Gehege geöffnet, setzte ein regelrechtes Wettrennen um die Leckerli ein. Bei einigen Versuchen konnte nur ein Rabe zusehen, wie das Futter versteckt wurde. Der andere Rabe war ahnungslos, was dem Bevorteilten nicht verborgen blieb. Wurde nun der Zugang zum Gehege geöffnet, spurtete der Rabe mit dem Wissensvorsprung nicht etwa auf das Futter los, denn das hätte mit Sicherheit die Aufmerksamkeit des Rivalen geweckt. Er nahm sich vielmehr Zeit und kam, oh welch ein Zufall, genau dann an dem Versteck vorbei, als der andere Rabe weit entfernt war. Jetzt brauchte er den gefräßigen Konkurrenten nicht zu fürchten.

Raben haben offensichtlich auch ein Bild von sich selbst und von anderen Individuen ihrer Art. Sie begrüßen Artgenossen, die sie nicht kennen, mit einer deutlich tieferen und rauheren Stimme als Raben, die ihnen vertraut sind. Ihnen bekannte „freundliche“ Raben werden mit höherer Stimme begrüsst als bekanntermaßen „unfreundliche“.3) Das heißt, sie erkennen die unterschiedlichen Individuen, bewerten sie in ihrem Verhalten und können diese Bewertung erinnern. In einem Experiment wurde Raben ein roter Punkt aufgeklebt. Dann wurde ihnen ein Spiegel vorgesetzt. Sie erkannten sich und den roten Punkt an ihrem Federkleid und versuchten, diesen wegzupicken. Sie hatten also verstanden, dass das Spiegelbild ein Abbild ihrer selbst war und der rote Punkt dort nicht hingehörte.4) Diese Beispiele zeigen, dass Raben über eine hervorragende Merk- und Lernfähigkeit verfügen, dass sie mit Artgenossen kommunizieren und dass sie in der Lage sind, Schlussfolgerungen zu ziehen oder auch sich selbst zu erkennen. Das sind anspruchsvolle geistige Leistungen, die demnach kein Alleinstellungsmerkmal höherer Säugetiere sind.

Auf der anderen Seite haben wir bereits gesehen, dass Krebse und Insekten zwar komplizierte Verhaltensmuster beherrschen und ihre Umwelt vielfältig wahrnehmen, dass die jeweiligen Wahrnehmungen aber relativ starr mit vorgeprägten Verhaltensmustern verknüpft sind. Ein Lernprozess des einzelnen Individuums findet nicht statt. Die Fliege wird auch zum hundersten Mal an die Scheibe krachen, weil der Reiz der Helligkeit sie lenkt. Sie kann auch um den Preis tötlicher Erschöpfung nicht begreifen, dass mit der Scheibe ein unüberwindliches Hindernis den Weg versperrt. Die Fliege ist also nicht in der Lage, aus den vorausgegangenen Fehlversuchen zu lernen.

Die Fähigkeit, aus Erfahrung klug zu werden, das heißt zu lernen, setzt die Fähigkeit des Erinnerns voraus. Diese Fähigkeit ist vor allem für Wirbeltiere charakteristisch, die vor 540 Millionen Jahren ihren Weg begannen. Zu den ersten Wirbeltieren zählen die Fische. Fische werden gemeinhin nicht als sonderlich intelligent angesehen, und doch haben Beobachtungen an heutigen Arten beachtliche geistige Leistungen gezeigt. Man konnte zum Beispiel Goldfische dressieren, dass sie einen Ball mit Stirn und Maul in ein Tor bugsieren. Dressur setzt Erinnerung voraus. Drückerfische nutzen spezielle Steine um Seeigel, ihre Hauptnahrung, zu knacken. Dieses Wissen geben sie sowohl an andere wie auch an ihren Nachwuchs weiter.5) Bei Putzerfischen hat man entdeckt, dass sie sich je nach Situation unterschiedlich verhalten. Ihre Erfahrung lehrt sie, eine Situation zu bewerten und ihr Verhalten entsprechend anzupassen.

Aber nicht nur Wirbeltiere sind zu erstaunlichen geistigen Leistungen fähig. Als die intelligentesten wirbellosen Tiere gelten Kopffüßer, insbesondere Kraken. Sie sind ebenfalls lernfähig und haben ein beachtliches räumliches Gedächtnis. Kraken sind Meister der Tarnung und des Sichversteckens. Sie erfassen besondere Gegebenheiten und nutzen diese, um an Futter zu gelangen. Diese Fähigkeit setzt voraus, dass sie eine Beobachtung mit einem erwarteten Ergebnis verbinden können. So sind Kraken in der Lage, Gegenstände aus einem verschlossenen Glas herauszuholen, indem sie den Deckel abschrauben.6) Tintenfische haben gelernt, die Hummerfallen der Fischer auszuräumen und Kraken entern schon mal ein Fischerboot, um sich vor der Nase der Fischer an deren Fang gütlich zu tun. Damit der Plan gelingt, tarnen sie sich gekonnt.

Kraken planen und täuschen – tun sie das bewusst? Bei der Frage nach dem Bewusstsein von Tieren geht man, unausgesprochen, vom Menschen aus. Der Mensch gehört zu den Wirbeltieren, deren Geschichte unter anderem durch die Entwicklung des Gedächtnisses geprägt ist. Demnach wäre es nachvollziehbar, die Entstehung des Bewusstseins mit der Geschichte der Wirbeltiere zu verbinden. Doch wie sind dann die geistigen Leistungen der Kraken zu bewerten? Wirbeltieren und Weichtieren ist gemeinsam, dass sie Nervenzellen besitzen, die sich zu neuronalen Netzen verknüpfen. Ist etwa bereits die Entstehung von neuronalen Netzen die Geburtsstunde des Bewusstseins? Doch wie ordnen wir dann Quallen und Insekten ein, die ebenfalls über neuronale Strukturen gesteuert werden, die aber nicht über ein Gedächtnis verfügen? Wir kommen mit dieser Frage nur weiter, wenn wir klären, was unter „Bewusstsein“ zu verstehen ist.

zuletzt geändert: 03.09.2019

1) Wikipedia, Stichwort „Hugin und Munin“

2) GEO kompakt Nr. 28, Seite 98, Sebastian Witte – Vögel was sie wohl denken? 2011

3) Wikipedia, Stichwort „Kolkrabe“

4) Wikipedia, Stichwort „Raben und Krähen“

5) www.welt.de, Elke Bodderas, Fische sind intelligent – nicht nur im Schwarm, Interview mit Prof. Jens Krause, 10.01.2011

6) Wikipedia, Stichworte „Intelligenz von Kopffüßern“ sowie „Kopffüßer“

Bild: Wikipedia by Sigurdur Atlason, gefunden unter www.der-silberne-zweig.de