Schein und Sein

Maske

Manches ist in Wahrheit anders, als es scheint. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Nur, woran liegt das? Liegt es an den Umständen der Beobachtung oder liegt es an den Menschen, die etwas falsch einschätzen und deshalb zu falschen Schlussfolgerungen gelangen. Falsche Einschätzungen wiederum hängen oft mit vorgefassten Erwartungen zusammen. Möglicherweise sind die Erwartungen falsch? Wir gehen mit Erwartungen, die aus unseren Erfahrungen erwachsen, an die Dinge, an die Umstände und an die Menschen heran. Das ist durchaus sinnvoll, denn so machen wir Erfahrungen für uns nutzbar. Manchmal ist es allerdings besser, Erfahrungen oder „gesichertes Wissen“ in Frage zu stellen. Das gilt vor allem dann, wenn die Resultate der aus ihnen erwachsenden Leitsätze und Normen per Saldo nicht weiterführen, in einer Sackgasse oder einem Irrgarten enden. Dann ist es gut, wenn man bereit und in der Lage ist, neu auf die Dinge zu schauen, seine Erwartungen zu öffnen. Manchmal entpuppt sich das vermeintliche Sein eben doch als trügerischer Schein.

Da der Schein trügen kann, bezeichnet man Umstände oder Dinge, deren Wesen sich nicht auf den ersten Blick erschließt, auch als „scheinbar“. Auf diese Weise mag auch der Begriff der „Scheinkräfte“ entstanden sein. Als Scheinkräfte bezeichnet man Phänomene, aus denen man auf das Wirken einer Kraft schließen könnte, eine Vorstellung, die jedoch anderem gesicherten Wissen widerspricht. Als Paradebeispiel einer Scheinkraft wird gern die Trägheit angeführt. Wenn ein Körper gleichmäßig, mithin „träge“, einer Bahn folgt, dann sagt uns unsere Erfahrung, dass Kräfte wirken, die diesen Körper in Bewegung und auf Kurs halten, denn er ist ständig Wirkungen ausgesetzt, die ihn bremsen oder wenigstens ablenken müssten. Ein perpetuum mobile ist auf Erden nicht möglich.

Bei der Bewertung dieser Erfahrung ist zu beachten, dass die irdischen Bedingungen einen Sonderfall darstellen. Außerhalb unseres Sonnensystems wirken weder die Gravitationskraft der Erde noch irgendwelche Reibungskräfte, so dass sich eine einmal initiierte Bewegung auch ohne weitere Krafteinwirkung gleichbleibend oder „träge“ fortsetzt. Im Gegenteil, eine Krafteinwirkung würde hier zur Änderung der Bewegung, deren Abbremsung, Beschleunigung oder Ablenkung, führen. Damit können aus einer gleichmäßigen geradlinigen Bewegung auch keine Wirkungen auf andere erwachsen, da diese mit der Abgabe von Energie, und deshalb mit einer Veränderung der Bewegung, verbunden wären.

Die Zentrifugalkraft wird ebenfalls häufig als Scheinkraft bezeichnet. Warum eigentlich? Im Gegensatz zur Trägheit ruft die Zentrifugalkraft zweifellos eine reale Wirkung hervor. Jede Wäscheschleuder macht sich diese Kraft zu nutze. Schauen wir uns das etwas genauer an. In rotierenden Systemen, das heißt in Strukturen, die sich um eine Achse herum bewegen, werden deren Bestandteile nach außen geschleudert. Diese nach außen gerichtete Wirkung wird als Zentrifugalkraft oder Fliehkraft bezeichnet. Die Stärke der Fliehkraft bekommt man zu spüren, wenn dieses Davonfliegen verhindert wird. Bei einer Wäscheschleuder verhindert die Trommel, dass sich die feuchte Wäsche in der Wohnung verteilt. Die Trommel lässt jedoch das Wasser entweichen. Es wird außerhalb der Trommel aufgefangen und abgeleitet. Auf diese Weise werden Wasser und Wäsche getrennt. Die Rotationsbewegung der Trommel erzeugt also eine nach außen weisende Kraft, die sich als Druck der Wäsche auf die Trommelwand äußert. Wirkungsursache ist die rotierende Bewegung der Trommel. Die von ihr erzeugte Kraft äußert sich als Druck der Wäsche auf deren Wand.

Eine andere Möglichkeit das Davonfliegen der rotierenden Teile zu verhindern, besteht darin, sie an den Rotationsmittelpunkt anzubinden. Im Alltag könnte man ein Seil oder eine Kette, wie bei einem Kettenkarussell, zur Hilfe nehmen. Durch die Kette werden die Sitze mit dem sich drehenden Mittelteil verbunden, so dass sie nicht davonfliegen können. Sie werden aber nach außen geschleudert und umrunden den sich drehenden Mittelteil auf einer äußeren Bahn, die maximal senkrecht zur Achse verläuft. In diesem Fall äußert sich die aus der Rotation resultierende nach außen weisende Kraft in der Zugwirkung, die der Sitz über die Kette auf die Verankerung im Mittelteil ausübt.

Für das Wirken von Zentrifugalkräften ließen sich viele Beispiele finden. Dass sie trotzdem „Scheinkräfte“ sein sollen, wird damit begründet, dass sie nur innerhalb des Systems, das heißt innerhalb der jeweiligen rotierenden Struktur, messbar sind. Von außen betrachtet, scheinen die rotierenden Körper einfach nur träge ihrer Bahn zu folgen. Das Vorhandensein einer Kraft lässt sich von außen nicht messen. Das ist wiederum nichts Besonderes, denn diese Feststellung trifft auf alle Messungen zu. Messungen sind immer nur innerhalb eines Bezugssystems möglich. Erinnert sei an das Beispiel des gleichmäßig dahinfahrenden Zuges und des am Bahndamm stehenden Beobachters. Der außen, das heißt außerhalb des Zuges, stehende Beobachter kann eine Bewegung innerhalb des Zuges überhaupt nur dann erkennen, wenn er in den Zug hineinschauen kann. Ist dies nicht gegeben, zum Beispiel weil die Rollos heruntergelassen sind, dann hat er keine Chance, eine Bewegung im Zug wahrzunehmen, geschweige denn diese zu messen. Wenn man die Bewegung von außen nicht messen kann, heißt das jedoch nicht, dass sie nicht existieren würde. Wenn der Beobachter am Bahndamm den mit seinem Tischtennisball spielenden Jungen im Zug nicht sehen kann, heißt das ja auch nicht, dass dieser spielende Junge nicht existent wäre. Er ist durchaus real und nicht etwa ein Junge, der nur scheinbar mit dem Tischtennisball spielt.

Wir können also getrost davon ausgehen, dass die Zentrifugalkraft eine reale Kraft ist, wie die Gravitationskraft auch. Die Gravitationskraft wirkt übrigens ebenfalls nur innerhalb der Struktur, die sie konstituiert. Nur innerhalb dieser Struktur, dieses Bezugssystems kann man ihre Stärke ermitteln. Von außen kann man nur über Umwegen auf ihr Wirken schließen. So lässt sich die Gravitationskraft von Planeten anderer Sonnensysteme von der Erde aus nicht bestimmen, da sie auf der Erde nicht als Wirkung registriert werden kann. Man kann jedoch Berechnungen auf der Basis der Wirkungen, die sie auf andere Planeten dieses Systems hat, anstellen und so zu einem Wert gelangen. Einstein hat deshalb die Gravitationskraft und die Zentrifugalkraft auf die gleiche Stufe gestellt und beide als Scheinkräfte angesehen. Das ist immerhin konsequent. Doch auf diese Weise verflüchtigen sich die realen Zusammenhänge in eine Scheinwelt. Da die Gravitationskraft und die Zentrifugalkraft reale Wirkungen zeitigen, sollten wir sie auch als reale Kräfte betrachten.

Die Ursache der Zentrifugalkraft ist in der Rotationsbewegung der Strukturen begründet, ihre Wirkungsrichtung weist nach außen. Sie will alles hinausschleudern. Wenn da nichts wäre, das dieses Hinausschleudern verhinderte, dann würde die Zentrifugalkraft die rotierende Struktur zerstören. Eine Zerstörung von Strukturen lässt freie Teile entstehen, die nun die Möglichkeit haben, neue Strukturen zu bilden. Insofern liegt im zerstörerischen Potential der Fliehkraft ein produktiver Keim. Gäbe es jedoch nur die Zentrifugalkraft, dann könnten keine Strukturen entstehen beziehungsweise dauerhaft existieren. Es ist eine weitere Kraft vonnöten, die die Bestandteile der Strukturen am Davonfliegen hindert, die der Zentrifugalkraft entgegenwirkt. Diese Kraft, die wie eine unsichtbare Kette die Trabanten festhält und auf eine Umlaufbahn zwingt, ist die Gravitation. Die Gravitationskraft weist nach innen. Sie hält die Struktur zusammen. Würde ihr nichts entgegenwirken, dann würde sie allerdings die Bestandteile der Struktur immer enger an den Mittelpunkt heranziehen. Die Räume würden sich verengen, bis keine Bewegung mehr möglich wäre. Das heißt, ohne eine Gegenwirkung würde die Gravitationskraft zur Erstarrung und damit ebenfalls zum Exitus der Strukturen führen.

Nur das gemeinsame Wirken von Gravitationskraft und Zentrifugalkraft gewährleistet sowohl den Zusammenhalt der Strukturen als auch die Bewegung in ihrem Inneren. Beide Kräfte müssen sich in einem relativen Gleichgewicht befinden, denn nur dieses gewährleistet den Fortbestand der Strukturen. Ist solch ein Gleichgewichtszustand hergestellt, dann mag es so scheinen, als ob keinerlei Kräfte wirkten und die Beteiligten nur träge ihrer Bahn folgen. Doch dieser Schein ist trügerisch, wie wir nun wissen.

zuletzt geändert: 30.06.2019

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