Nachsinnliches

Der Mensch wäre nicht zu dem geworden, der er ist, wenn er sich auf seine Wahrnehmungen und die Reaktionen darauf beschränkt hätte. Deshalb wollte Ferdinand als nächstes darüber diskutieren, was der Mensch mit den gewonnenen Informationen anfängt.

Sprache, Schrift und Wissen

Alles, was wir über unsere Umwelt und uns selbst erfahren, haben der Mensch gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt, ertastet oder sonstwie über die Sinne erfahren. Diese Erfahrungen sind ein Schatz, aus dem er schöpfen kann, um sich in der Welt zurecht zu finden. Diesen Schatz kann er immens vergrößern, wenn er sich mit anderen über seine Erfahrungen austauscht.

Der Austausch über Beobachtungen und Erfahrungen spielte bereits bei unsere urzeitlichen Vorfahren, die sich einer oft feindlichen Umwelt erwehren mussten, eine große Rolle. Sie warnten sich gegenseitig vor Gefahren oder sie machten sich auf Nahrung aufmerksam und wie sie zu erlangen sei. Anfangs wurden dafür Gebärden und Laute verwendet, doch bald reichten die zur Verfügung stehenden Laute nicht mehr aus, um alle wichtigen Sachverhalte oder Dinge unverwechselbar zu bezeichnen. Man konnte mehrere Laute miteinander verbinden und sich auf diese Weise neue Möglichkeiten für Bezeichnungen erschließen. Die Lautverbindungen wurden zu Wörtern, erst zu einfachen, später auch zu solchen, die aus mehreren Lautverbindungen zusammengesetzt waren. Zumindest könnte es so gewesen sein. Klar ist jedoch, dass es immer Wahrnehmungen über die Umwelt, über Artgenossen oder eigene Befindlichkeit waren, zu denen man sich verständigen wollte. Diese Wahrnehmungen prägten die Wörter und damit die Sprache. Mit der Sprache drücken wir aus, was unsere Sinne registrieren beziehungsweise was uns das Gehirn auf dieser Basis an Eindrücken vermittelt.

Die Vielfalt der möglichen Sinneswahrnehmungen ist gewaltig. Man denke nur an die 10.000 Düfte, die wir zu unterscheiden vermögen. Wollte man diese Vielfalt jeweils mit eigenen Wörtern beschreiben, würde dies unsere intelektuellen Möglichkeiten wahrscheinlich überfordern. Nicht alle Wahrnehmungen sind jedoch gleichermaßen wichtig. Der Geruchssinn hat für die Menschen beispielsweise nicht die gleiche Bedeutung wie für andere Säugetiere. Deshalb war es auch nicht erforderlich, für alle Düfte Bezeichnungen zu bilden, um sich über diese auszutauschen. Außerdem konnte man Dinge oder Sachverhalte, die in wesentlichen Punkten übereinstimmten, in einem Wort zusammenfassen. Ein Teller ist ein Teller, egal ob er aus Holz gefertigt wurde oder aus Keramik, aus Metall oder Knochen, egal welche Größe er hat, welche Farbe oder Form. Meist reichte die allgemeine Bezeichnung „Teller“ aus, um den Gegenstand, der gemeint war, hinreichend zu benennen. Wurde eine genauere Bezeichnung erforderlich, dann konnten konkretisierende Wörter hinzugefügt werden. Wollte man Sachverhalte oder Ereignisse schildern, konnten ebenfalls mehrere Wörter miteinander verbunden werden. Die Kombination der Wörter musste allerdings allgemein akzeptierten Regeln folgen, damit Missverständnisse vermieden würden. Diese Regeln nennen wir heute Grammatik.

Für die Herausbildung der Sprache, des Sprechens und Verstehens, waren körperliche Anpassungen erforderlich, wie die Entwicklung des Sprechapparates und des Gehörs. Diese Anpassungen gingen in das Erbgut der Menschen ein. Die Sprache selbst wird nicht vererbt, das heißt, jedes Kind muss sie immer aufs Neue erlernen. Eine Vererbung kam nicht in Frage, weil die Sprache etwas sehr dynamisches ist, das sich den unterschiedlichen und sich zudem verändernden Lebensbedingungen anpassen muss. Die Dynamik, mit der sich die Sprache verändert, führte wiederum dazu, dass sich in den mehr oder weniger isoliert voneinander lebenden Gemeinschaften unterschiedliche Sprachen und Dialekte herausbildeten.

Im Laufe der Zeit wurden die Gemeinschaften der Menschen größer und gleichzeitig vielgestaltiger. Wirtschaftliche Beziehungen entwickelten sich, teilweise über große Entfernungen hinweg. Daraus entstand das Bedürfnis, gegenseitige Verpflichtungen nachprüfbar festzuhalten, das heißt zu dokumentieren. Außerdem war es mitunter erforderlich, anderen Personen Nachrichten zukommen zu lassen, die man nur ungern Dritten für eine mündliche Überlieferung anvertraute. Alternativ konnte man dem Partner Gegenstände oder Zeichnungen übersenden, die eine Nachricht symbolisierten. Das setzte jedoch voraus, dass der Empfänger die Symbole zu deuten wusste. Das heißt, die Partner mussten vorab verabreden, was mit den jeweiligen Gegenständen oder Zeichnungen ausgedrückt werden sollte. Das war umständlich. Deutlich mehr Möglichkeiten eröffneten sich, als man dazu überging, die Sprache selbst in allgemein akzeptierten Bildern oder Zeichen wiederzugeben. Dazu mussten den Wörtern einzelne Bilder verbindlich zugeordnet werden. Bilderschriften, wie die Hyroglyphen der alten Ägypter, entstanden.

Die Bilderschriften hatten den Nachteil, dass die einzelnen Bilder oder Symbole die Dinge und Sachverhalte nur grob differenzierten. Das Leben gewann jedoch ständig an Vielvalt, so dass, um Missverständnisse zu vermeiden, immer neue Bilder benötigt wurden. Immer mehr Bilder machten die Schrift jedoch kompliziert und damit weniger alltagstauglich. Zur Auflösung dieses Dilemmas wurde irgendwann nicht mehr alles und jedes mit einem speziellen Symbol benannt, vielmehr ging man dazu über, nur einfache Wörter und wiederkehrende Lautverbindungen, die Teile von Wörtern geworden waren, mit Symbolen zu bezeichnen. Die Symbole dieser Lautverbindungen konnten nun zu komplizierteren Wörtern zusammengesetzt werden. Eine solche Entwicklung lässt sich bei den Sumerern oder auch im alten Ägypten nachweisen. Später ging man noch einen Schritt weiter und ordnete den Lauten Schriftzeichen zu, aus denen dann Silben und Wörter zusammengesetzt werden konnten. Auf diese Weise entstand eine phonetische Schrift, die mit relativ wenigen Zeichen praktisch jeden Sachverhalt darstellen kann.

Das geschriebene Wort reichte jedoch nicht aus, um alle Arten von sinnlichen Wahrnehmungen auszudrücken. Wie soll man Töne mit Worten benennen, so dass beim Lesenden wieder eine Melodie assoziiert werden kann? Zur Dokumentation von Musik konnte man offensichtlich nicht den Umweg über die Sprache nehmen. Man brauchte eine spezielle Schrift, die die Musik direkt symbolisierte. Noten wurden erdacht. Außer der Musik gibt es auch andere Lebensbereiche, die sich einer besonderen Zeichensprache bedienen. In der Mathematik werden zum Beispiel mengen- und größenmäßige Zusammenhänge durch Zahlen und andere Zeichen dargestellt. Aber auch sonst spielen Zeichen und Symbole eine wichtige Rolle. Das können Handzeichen sein, wie zur Regelung des Straßenverkehrs, oder stilisierte Zeichnungen und Markierungen. Mir fallen da sofort die allgegenwärtigen Verkehrsschilder ein, deren Bedeutung man irgendwann erlernen muss, damit bei ihrer Wahrnehmung dieses Wissen sofort gegenwärtig ist, ohne dass jedesmal lange Erklärungen erforderlich wären. Alle Zeichen und Symbole dienen dazu, die Kommunikation zu verbessern, sie einfacher und schneller werden zu lassen.

Die Entstehung der Zeichen und Symbole beruht genauso wie die Herausbildung der Sprache auf Abstraktionsprozessen. Die Fähigkeit zur Abstraktion wurde wiederum die Grundlage dafür, dass aus der Vielfalt der Erscheinungen allgemeingültige Zusammenhänge, sei es in der Natur oder in der Gesellschaft der Menschen, herausgearbeitet werden konnten. Im Unterschied zu den Erfahrungen, die meist einen individuellen Bezug besitzen, in jedem Fall aber eine spezielle Aufgabe oder Situation betreffen, ist das auf diese Weise entstandene Wissen auf eine Vielzahl recht unterschiedlicher Gegebenheiten anwendbar. Hinzu kommt, dass dieses Wissen in Bereiche vorstoßen kann, die der direkten Wahrnehmung verborgen bleiben. Damit wurde das Wissen zu einem bedeutenden Schatz der Menschen, der wohl behütet, das heißt von Generation zu Generation weitergegeben werden konnte. Seine Pflege, Mehrung und Weitergabe übertrug man speziell dafür ausgebildeten Personen. In der Abstraktion, das heißt in der Loslösung des Wissens von konkreten Erscheinungen, besteht jedoch auch eine Gefahr, denn die auf dieser Basis entstehenden Theorien können sich leicht von der Realität entfernen.

Bild: imbstudent.donau-uni.ac.at

 zuletzt geändert: 01.02.2019